# taz.de -- Schach-WM in Singapur: Zweifelnder Weltmeister | |
> Bei der anstehenden Schach-WM werden dem Titelverteidiger Ding Liren kaum | |
> Chancen eingeräumt. Der Chinese kämpft mit psychischen Problemen. | |
Bild: Bessere Zeiten: Ding Liren bei der Weltmeister-Ehrung im vergangenen Jahr | |
Noch nie in der 1886 beginnenden Geschichte der Schach-Weltmeisterschaften | |
war der Herausforderer so hoch favorisiert wie jetzt: Bei dem am Montag, | |
25. November, um 17 Uhr (10 Uhr MEZ) im Resort World Sentosa in Singapur | |
beginnenden Titelkampf muss man schon ein glühender Bewunderer [1][von | |
Weltmeister Ding Liren] sein, um einen Pfifferling auf den 32-jährigen | |
Chinesen zu setzen. | |
Die meisten Experten sind überzeugt, dass H[2][erausforderer Dommaraju | |
Gukesh] nicht einmal die 14 Partien bis zum 13. Dezember benötigt, um | |
jüngster Weltmeister der Schachhistorie zu werden. „Ich bin der | |
Außenseiter. Ich bin besorgt, sehr übel zu verlieren“, gesteht selbst | |
Titelverteidiger Ding unverblümt und einmal mehr ungewöhnlich offenherzig. | |
Der 18-jährige Gukesh, der dem WM-Match freudig „entgegenfiebert“, ist | |
schon jetzt jüngster Herausforderer aller Zeiten und pulverisiert den | |
Rekord [3][des Norwegers Magnus Carlsen], der mit 22 Jahren auf den Inder | |
Viswanathan Anand traf und ihn als Weltmeister ablöste. Nahezu alles in dem | |
Duell um 2,5 Millionen Dollar Preisgeld spricht für den neuen | |
Himmelsstürmer aus Indien, nichts für den amtierenden Champion. Carlsen | |
fürchtet gar, dass sein Nachfolger womöglich „für immer gebrochen“ ist u… | |
nie mehr an sein einstiges Niveau herankommt. | |
Ja, selbst die Verantwortlichen der chinesischen Nationalmannschaft glauben | |
kaum an Ding Liren. Bei der Schach-Olympiade in Budapest ließen sie vor ein | |
paar Wochen ihren Topspieler pausieren, als es im vorentscheidenden Duell | |
um die Goldmedaille zwischen China und Indien ging. Zu groß schien ihnen | |
die Gefahr, dass der stürmische Gukesh D., wie er in Indien kurz genannt | |
wird, auch über Ding hinwegfegt! Der neue Weltranglistenfünfte zertrümmerte | |
acht seiner zehn Gegner, remisierte zweimal und belegte nicht nur mit dem | |
jungen Team seines Landes souverän Platz eins, sondern bekam auch noch die | |
Goldmedaille als bester Spieler umgehängt. | |
## Kein Sieg in 28 Turnierpartien | |
Die Probleme des Weltmeisters veranschaulicht auch sein ernüchterndes | |
Abschneiden bei der Schach-Olympiade: Ding Liren gewann keine einzige | |
seiner acht Partien. Sieben remisierte der 32-Jährige, ein Duell verlor er | |
gar gegen den Vietnamesen Le Quang Liem. Von seinen letzten 28 | |
Turnierpartien gewann der Weltmeister keine einzige und unterlag in sieben | |
davon. „Mir unterlaufen zu viele Fehler. | |
Es ist immer dasselbe Problem: Ich kann Gewinnstellungen nicht mehr | |
verwerten“, klagte der Weltmeister in einem Interview in Budapest. Der auf | |
Platz 23 abgerutschte Großmeister ist nur noch ein Schatten seiner selbst. | |
Ding war vor fünf Jahren in der Weltrangliste sogar Carlsen auf die Pelle | |
gerückt, hatte er doch die bis dahin längste Serie in der Schachhistorie | |
mit 100 Partien ohne Niederlage hingelegt. | |
Seit er in den WM-Kampf als Zweiter des Kandidatenturniers 2022 in Madrid | |
rutschte, weil Carlsen auf den Titel verzichtet hatte, ist Ding psychisch | |
stark angeschlagen. Er bezwang zwar den Russen [4][Jan Nepomnjaschtschi] | |
im Tiebreak. Der Titel als erstmaliger chinesischer und 17. | |
Schach-Weltmeister beflügelte Liren aber nicht, sondern zog ihn in die | |
Tiefe. Das enge Duell brachte ihn an die Grenzen seiner Psyche. | |
Auch wenn Schachspieler unbewegt am Brett sitzen, bewegt sich im Inneren | |
bei ihnen einiges. Der Druck ist immens und kann von Laien kaum | |
nachvollzogen werden. Im Tischtennis können Spieler beispielsweise neun | |
Fehler machen und den Satz trotzdem mit 11:9 gewinnen – im Spitzenschach | |
ist oft bereits ein Fehler spielentscheidend. Die Anspannung verfolgt einen | |
rund um die Uhr. Sogar im Schlaf verfolgen die Spitzenspieler die | |
Ereignisse am Brett. Sie kommen so nie zur Ruhe, werden vor allem von ihren | |
Fehlern und Niederlagen geplagt. | |
## „Ich will nur nicht Letzter werden!“ | |
Ding machte aus seiner Ausgelaugtheit nach dem nervenzehrenden WM-Kampf | |
keinen Hehl. Offen räumte er die psychischen Probleme ein und gab beim | |
Schnellschachturnier in Karlsruhe an Ostern 2024 mit Carlsen das Ziel aus: | |
„Ich will nur nicht Letzter werden!“ Ein himmelweiter Unterschied zu | |
einigen seiner Vorgänger wie dem Russen Garri Kasparow oder vor allem dem | |
US-Amerikaner Bobby Fischer, die „das Ego“ ihrer Gegner „brechen“ wollt… | |
Ding Liren wirkt selbst wie ein gebrochener Mann. | |
André Stratonowitsch lernte als Nationalspieler der Seychellen bei der | |
Schach-Olympiade in Budapest die WM-Rivalen gerade erst im September | |
kennen. Der Deutsche, der auf den Seychellen lebt, beobachtete beide | |
während dieser Mannschafts-Weltmeisterschaft genau und stellt fest: „Gukesh | |
ist eine Maschine.“ Gukesh stammt wie Viswanathan Anand, der in Indien für | |
einen Schachboom sorgte, aus Chennai, dem früheren Madras. „Es ist | |
unglaublich, wie Gukesh spielt“, findet Stratonowitsch und erwartet einen | |
„unterhaltsamen WM-Kampf ohne viele Remis“. Wer am Schluss die Schachkrone | |
aufgesetzt bekommt, steht auch für Stratonowitsch außer Frage: „Gukesh wird | |
Ding Liren dominieren und vor der 14. Partie jüngster Weltmeister der | |
Schachgeschichte sein.“ | |
Einen Hoffnungsschimmer gibt es für Ding: Bisher verlor der Chinese keine | |
der drei Turnierpartien gegen Gukesh und gewann deren zwei. Deshalb könnte | |
der Großmeister aus Wenzhou gegenüber seinem 14 Jahre jüngeren | |
Kontrahenten einen gewissen Optimismus zur Schau tragen. Gukesh hat aber | |
bewiesen, dass er nicht nur in die großen Fußstapfen [5][des „Tigers von | |
Madras“] treten kann. Er dürfte auch den Großteil des Preisgelds | |
einheimsen. | |
Erstmals erhält nämlich jeder Spieler 200.000 US-Dollar für jede gewonnene | |
Partie. Das restliche Preisgeld wird zu gleichen Teilen unter den Spielern | |
aufgeteilt. Im Falle eines 7:7 und eines Tiebreaks bekommt der neue | |
Champion 1,3 Millionen und der Unterlegene 1,2 Millionen Dollar. Sollte | |
sich allerdings die düstersten Prognosen für Liren mit sieben Niederlagen | |
bewahrheiten, bekäme er lediglich 550.000 Dollar ausgezahlt. Aber das | |
Preisgeld dürfte in der Gedankenwelt von Ding Liren derzeit eine | |
nebensächliche Rolle spielen. | |
24 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Hartmut Metz | |
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