# taz.de -- Schachweltmeister Ding in der Krise: Unerklärliche Schwankungen | |
> Knapp ein Jahr nach dem WM-Titel-Gewinn verliert Ding Liren eine | |
> Schachpartie nach der anderen. Plagen ihn Selbstzweifel? | |
Bild: Ding Liren helfen derzeit auch die längsten Denkpausen wenig | |
Was ist nur los mit Ding Liren? Das ist aktuell mit die größte Frage, die | |
die Schachgemeinde beschäftigt. Auf Twitter sieht man den Chinesen in | |
Videos durch den grauen Winterregen spazieren, die Arme an seinen schmalen | |
Oberkörper gepresst, auf dem Weg zu einer seiner Partien, die zu spielen er | |
momentan fast nicht in der Lage scheint. | |
Schauplatz dieser Tragödie ist ein Luxusressort an der deutschen | |
Ostseeküste, wo gerade ein top besetztes Freestyle-Schachturnier | |
ausgetragen wird. Freestyle chess, das auch 960 oder Fisher Random genannt | |
wird, ist eine Schachvariante, in der, grob gesagt, die Figuren der | |
hinteren Reihen durcheinandergewürfelt werden. Als Konsequenz daraus nutzt | |
den Spieler*innen all das Theoriewissen, das sie sich über klassische | |
Eröffnungen angeeignet haben, nur sehr wenig, und die Stellungen werden | |
schnell unübersichtlich und entsprechend umkämpft. | |
Es kommt immer wieder vor, dass auch die besten Großmeister miese Turniere | |
spielen. Was aber Ding Liren in diesen Tagen passiert ist, fällt nicht | |
unter diese normalen Formschwankungen. Die Vorrunde beendete er mit | |
niederschmetternden 0,5 aus 8 Punkten auf dem letzten Platz, gegen Fabiano | |
Caruana übersah er eine Taktik, die selbst mittelmäßige | |
Hobbyspieler*innen in der Regel nicht entgeht. Es scheint | |
unerklärlich. | |
Es ist kaum ein Jahr her, da war [1][Ding Liren auf dem Höhepunkt seiner | |
Karriere.] In einem nervenaufreibenden, hochdramatisch hin- und herwogenden | |
Match besiegte er [2][Ian Nepomniachtchi] im Kampf um die | |
Weltmeisterschaft. Freilich ist es so, dass der Titel des Weltmeisters in | |
diesem Jahr nicht das gleiche Gewicht zukam wie die Jahre zuvor, weil der | |
unbestritten beste Schachspieler seiner Zeit (und vielleicht sogar aller | |
Zeiten) Magnus Carlsen nicht angetreten war. Weltmeister im klassischen | |
Schach zu sein, bedeutete schlicht, best of the rest zu sein. | |
## Zu viel Trubel | |
Ding Liren ist eine zarte Seele, schüchtern wie ein Reh, der, wenn man ihn | |
nach seinen Lieblingsfilmen fragt, „Disney movies“ antwortet. Er selbst hat | |
zu mehreren Gelegenheiten betont, er hätte wohl seine Schachkarriere | |
beendet, wenn er das Match gegen Ian Nepomniachtchi verloren hätte. Der | |
ganze Trubel sei ihm auch schlicht zu viel. | |
Nach dem Titelgewinn zog er sich eine Weile aus der Öffentlichkeit zurück, | |
um sich wieder zu sammeln; das jedenfalls ist ihm nicht gelungen. Ganz im | |
Gegenteil, wer ihn jetzt in den Interviews gesehen hat mit einem Puls von | |
mutmaßlich 160, könnte sich wohl kaum des Gedankens erwehren, dass da | |
jemand steht, der Hilfe braucht. | |
Dings Kollege Maxime Vachier-Lagrave beschrieb neulich in einem Podcast, | |
dass er seit seiner Corona-Infektion Schwierigkeiten habe, seinem Spiel | |
Stabilität zu geben. An guten Tagen liefe es wie zuvor, da fühle er sich | |
sicher; das Problem seien aber die weniger guten Tage, in denen man sich | |
durch seine Spiele durchbeißen müsse. Ausgerechnet Vachier-Lagrave, dem | |
seine Tendenz, schlechter aus den Eröffnungen herauszukommen als der | |
Gegner, den Beinamen „director of the french school of suffering“ | |
bescherte. | |
Vielleicht sind es aber auch gar keine extrinsischen Faktoren, die Ding | |
Lirens Blockade verursachen; vielleicht fehlt es ihm an Selbstbewusstsein, | |
über das seine Konkurrenten verfügen, und das gerade [3][bei Magnus | |
Carlsen] und Ian Nepomniachtchi gerne auch einmal in Arroganz umschlägt. | |
Vielleicht ist im Spitzensport kein Platz für zarte Seelen, nicht einmal im | |
Schach. Das würde das aktuelle Scheitern Ding Lirens allerdings umso | |
tragischer machen. | |
14 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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