# taz.de -- Streit um die Zukunft des Schachs: Rebell mit Sinn für Geschäfte | |
> Der weltbeste Schachspieler Magnus Carlsen bietet dem Weltverband Fide | |
> die Stirn. Es geht um die Zukunft des Sports und die Interessen des | |
> Norwegers. | |
Bild: Maestro Magnus Carlsen bei einem Blitzschachturnier im indischen Kolkata | |
Berlin taz | Es klingt nach einem Märchen: Magnus Carlsen, der vielleicht | |
beste Schachspieler aller Zeiten, mit Sicherheit aber der stärkste Spieler | |
der Gegenwart, geht in der Schachbundesliga ans Brett, und dann [1][auch | |
noch für den Underdog FC St. Pauli.] Am 11. Januar wird er debütieren. | |
Ausgerechnet St. Pauli, der wie kaum ein anderer in Deutschland für ein | |
basisnahes Vereinsleben steht, und zu dessen Identität neben einer klar | |
menschenrechtsorientierten Agenda es auch gehört, den Auswüchsen des | |
modernen neoliberalen Sports sehr kritisch gegenüberzustehen! Freilich | |
umweht den Klub deswegen auch eine gewisser Ruf der Unkonventionalität und | |
auch der Prinzipientreue. | |
Und wie könnte Magnus Carlsen denn nicht hierher passen – hat er sich nicht | |
kurz nach Weihnachten mit dem Weltschachverband Fide angelegt, weil er | |
gegen dessen vorgestrige Kleiderordnung verstieß und – Schockschwerenot – | |
[2][in Jeans spielte]; ja hat er sich nicht sogar von der | |
Schnellschachweltmeisterschaft zurückgezogen und [3][der Fide anschließend | |
öffentlich „Fuck you“ hinterhergerufen] – nur um ebenjene Fide dann zum | |
Einlenken zu zwingen, die ihn dann zur tags darauf stattfindende | |
Blitzschach-Weltmeisterschaft zuließ, und zwar in Jeans, und hatte er | |
dieses Turnier dann nicht sogar noch gewonnen? Zu welchem Klub könnte ein | |
solch selbstbewusster, rebellischer Star besser passen als zu St. Pauli? | |
Aber so einfach ist es nicht. Was wie eine kleine amüsante Anekdote klingt, | |
steht sinnbildlich dafür, wie sich im Schach die Machtverhältnisse | |
verschieben. Das Zerwürfnis zwischen Fide und Magnus Carlsen entzündete | |
sich nicht an einem Stück Beinkleid, sondern an der Frage, wie die Zukunft | |
des Sports gestaltet werden soll. | |
Die Fide nimmt dabei den traditionalistischen Part ein. Einer der Ursprünge | |
dieser Gegnerschaft ist der Modus, durch den der Weltmeister im klassischen | |
Schach bestimmt wird. Es handelt sich um den mit weitem Abstand | |
prestigeträchtigsten Titel des Sports, der aktuell in einem Best of | |
14-Match zwischen Titelträger und Herausforderer ausgespielt wird. Carlsen | |
gab seinen Titel 2023 kampflos auf, weil er sich nicht mehr motiviert genug | |
fühlte, die notwendige monatelange Vorbereitung auf solch ein Match | |
durchzustehen und weil er klassisches Schach auf höchstem Niveau ohnehin | |
nicht mehr als die Königsdisziplin ansah. Sein Versuch, die Fide davon zu | |
überzeugen, auch andere Formate stärker in einen Weltmeisterschaftskampf zu | |
integrieren, scheiterte: Für die Fide bleibt die lange Strecke Herzstück | |
des Sports. | |
## Fide und ihre Keml-Nähe | |
Nach dem im November 2024 ausgespielten Titel zwischen dem 32-jährigen | |
Titelverteidiger Ding Liren und dem 18-jährigen Herausforderer Dommaraju | |
Gukesh durfte sich die Fide in ihrer Herangehensweise bestätigt fühlen: | |
[4][Es war ein ungeheuer spannendes, unterhaltsames und fesselndes Duell,] | |
das auch davon lebte, wie offensichtlich der psychologische Druck beide | |
Kontrahenten fast zermürbte. Ding Liren, der am Ende tragischerweise wegen | |
eines Anfängerfehlers unterlag, sagte, jedes Spiel sei eine Tortur gewesen. | |
Auch wenn die Fide in diesem konkreten Fall tatsächlich das Erbe des Spiels | |
bewahrte, kann sie keinesfalls die Heldin in der Auseinandersetzung mit | |
Carlsen sein. Zu offensichtlich ist vor allem [5][die notorische Nähe zum | |
Kreml,] der Vorsitzende Arkadi Dworkowitsch war zunächst Wirtschaftsberater | |
der russischen Regierung, ab 2012 sechs Jahre lang stellvertretender | |
Ministerpräsident. | |
Seine Wahl an die Spitze der Fide wurde mutmaßlich aus Regierungskreisen | |
konzertiert. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde auch der | |
russische Schachverband zu Propagandazwecken eingebunden, insbesondere | |
auch einer der populärsten russischen Spieler, Sergei Karjakin. Der | |
Ethikrat der Fide rügte den eigenen Präsidenten, weil dieser seiner | |
Vorbildfunktion nicht gerecht worden sei und damit den Ruf des Verbandes | |
gefährdet habe. | |
Zurück zum Sport: Magnus Carlsen hat seinerseits auch schachliche | |
Argumente, die langen Formate abzulehnen. Tatsächlich sind, was das | |
Spitzenschach anbelangt, durch die rasante Entwicklung von Schachprogrammen | |
so gut wie alle Eröffnungen auserzählt. Die Schachelite hat quasi alle | |
Variationen ausrechnen lassen, was es tatsächlich schwierig macht, ein | |
Spiel ins Rollen zu bekommen. | |
## Langeweile der Profis | |
Es ist nachvollziehbar, dass einige Topspieler diese Art des Spiels eher | |
öde finden – auch Alireza Firouzja zum Beispiel hat sich schon ähnlich | |
geäußert. Für die allermeisten Zuschauer*innen allerdings verhält es | |
sich anders: Sie haben nicht den kompletten Variantenbaum vor Augen, und so | |
ergibt sich für sie die Gelegenheit, Stellungen kennenzulernen und sich in | |
sie hineinzudenken, die jemanden wie Carlsen natürlich völlig | |
offensichtlich erscheinen; ja ihn, wie er sagt, auch langweilen. | |
[6][Eine der Lösungen, für die Carlsen sich stark macht, ist Chess 960,] | |
auch Fischer Random genannt. Bei dieser Variante wird, vereinfacht gesagt, | |
die letzte Figurenreihe wild durcheinandergewürfelt; das bedeutet, dass | |
auch weit überlegenes Eröffnungswissen kaum mehr nutzt. Es geht rein um die | |
Spielstärke und die Idee dahinter ist, wie Carlsen sagt, dass die | |
Zuschauer*innen es faszinierend fänden, „wenn Topspieler fast genauso | |
blank sind wie sie zu Hause auch“. | |
Um dieses Format breit durchzusetzen, wurde ihm ein neuer catchy Name | |
verpasst – freestyle chess – und mit Hilfe des Milliardärs Jan Erik Büttn… | |
eine Grand Slam Tour aufgesetzt, die am 7. Februar in Weissenhaus an der | |
Ostsee startet. Um diese neue Art des Schachs zu popularisieren, hatte | |
Carlsen auch direkt im Vorfeld des WM-Titelkampfes ein Freestyle-Match | |
gegen den aktuell zweitbesten Spieler, Fabiano Caruna, ausgetragen. | |
Überhaupt hat Carlsen, der von sich sagt, schachlich sei er „halb im | |
Ruhestand“, inzwischen sehr viele geschäftliche Interessen entwickelt. Rund | |
um Jeansgate wurde bekannt, dass Schach Teil des Esports World Cup 2025 | |
sein würde, ein Event, das ein saudischer Staatsfond finanziert. | |
Weltbotschafter für Schach wird sein: Magnus Carlsen. Er wird also aktiver | |
Part des Sportswahshing Saudi-Arabiens. | |
Außerdem hat er die App TakeTakeTake entwickeln lassen, die wohl auch in | |
der Liveberichterstattung mitmischen soll, und kooperiert dabei mit zweien | |
der bekanntesten Schach-Streamer, Hikaru Nakamura und Levy Rozman. Es passt | |
ganz gut ins Bild, dass nach der Jeans-Kontroverse direkt eine Hosenmarke | |
auf die Idee kam, Carlsen als Modell zu werben. | |
## Möglichkeiten der Monetarisierung | |
Währenddessen setzt sich die Verschlechterung der Onlineangebote zum | |
Schach nahtlos fort. Es ist eine direkte Folge des Booms, der während der | |
Pandemie einsetzte und durch die große Popularität [7][der Netflix-Serie | |
„The Queens Gambit“] einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Seitdem wäch… | |
die Zahl der online aktiven Schachspieler*innen kontinuierlich, und | |
damit auch die Möglichkeiten der Monetarisierung. Profitiert davon hat | |
insbesondere die Seite chess.com unter CEO Danny Rensch. Sie ist auch | |
Partner Saudi-Arabiens beim Esports World Cup. Der Verdacht liegt nahe, | |
dass Carlsen, Rensch und ihre Businesspartner eine ernsthafte | |
Konkurrenzinfrastruktur zur Fide aufbauen. | |
Das wären schlechte Nachrichten fürs Schach: Mit dem Geld, das Danny Rensch | |
durch den Boom einsammeln konnte, hat er nach und nach versucht, alle | |
Konkurrenten aus dem Markt zu drängen. Die letzte große Akquise von Danny | |
Rensch war chessable, eine Onlinebibliothek, in der Spieler*innen ihre | |
Studien zu bestimmten Eröffnungen als Kurse teilen konnten. Trotz | |
gegenteiliger Beteuerungen sind seit Anfang des Jahres alle Kurse | |
kostenpflichtig, auch jene, die Urheber*innen ursprünglich als frei | |
eingestellt hatten. Eine Monopolisierung wird ihm aber vollständig nicht | |
gelingen: Es gibt noch lichess.org, dem nach chess.com zweitbeliebtesten | |
Schachserver: lichess läuft als freie Software und kann entsprechend nicht | |
gekauft werden. | |
Seine Beinkleider waren nicht der einzige Skandal, den Magnus Carlsen | |
während der Schnell- und Blitzschach-WM produzierte: Im Blitzfinale | |
beschloss er zusammen mit seinem Kontrahenten Ian Nepomniachtchi, sich den | |
Titel zu teilen. Diese Absprache immerhin wurde von einem Teil der | |
Schachelite wie von der Fide scharf kritisiert: Niemand ist größer als das | |
Spiel. Carlsen zeigte sich angesichts der Kritik unbeeindruckt und | |
heiratete, allerdings nicht in Jeans. | |
10 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fcstpauli.com/news/magnus-carlsen-tritt-im-januar-2025-erstmals… | |
[2] /Schach-Posse-wegen-einer-Jeans/!6059356 | |
[3] /Schachstar-Magnus-Carlsen-in-Jeans/!6053238 | |
[4] /Duell-bei-Schach-WM/!6052165 | |
[5] /Streit-um-Russlands-Sportcomeback/!6035384 | |
[6] /Schachturnier-fuer-Magnus-Carlsen/!5989209 | |
[7] /Netflix-Serie-ueber-Schachgenie/!5722650 | |
## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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