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# taz.de -- Der Hausbesuch: Erst war der Wille, dann der Weg
> Dass es in Deutschland einen Meister des Blaudruckhandwerks gibt, grenzt
> an ein Wunder. Holger Starcken heißt er. Er arbeitet immer nur mit
> Indigo.
Bild: Vater und Sohn: Holger (rechts) und Richard Starcken in ihrer Blaudruckga…
Lebensgeschichten sind oft von Zufällen geprägt. Und davon, sich im
richtigen Moment nicht nur für etwas, sondern auch gegen etwas zu
entscheiden.
Draußen: Am Berliner Müggelsee liegt Rahnsdorf, ein Randbezirk. Hier riecht
es nach Kiefernnadeln, feucht und erdig. Direkt am Wald steht das Haus von
Holger Starcken, seiner Frau Regina und seinem Sohn Richard, nur ein
Stockwerk hoch und unscheinbar. Es ist vieles gleichzeitig. Werkstatt,
Geschäft, Ausstellungsraum, Büro, Nähstube und das Zuhause einer Familie.
Drinnen: Wer durch die Eingangstür geht, steht erst einmal in einem
Verkaufsraum. Auf Kleiderstangen hängen Blusen und Schürzen, in Schränken
liegen Tischdecken, Handtücher und Kissenbezüge. An der Decke leuchtet ein
fein gemusterter Lampenschirm. An der Wand hängen Tücher, auf denen weiße
Bäume schimmern. Für viele Jahre hingen sie in der japanischen Botschaft,
aber als das Personal wechselte, brachte eine Delegation sie zu Holger
Starcken zurück. Denn er ist der, der die Muster auf den Stoffen entworfen
hat, sie auftrug und dann färbte, so wie er alles in diesem Raum
aufgetragen und gefärbt hat. Die Muster sind unendlich verschieden, aber
die Farbe ist immer gleich. Indigo, ein tiefes Mitternachtsblau.
Das Blau: Starcken beherrscht ein seltenes Handwerk: [1][den Blaudruck]. So
wie er färbten schon vor 2.000 Jahren Inder*innen und ägyptische
Kopt*innen ihre Stoffe. Dabei trägt Starcken zunächst feine Muster auf den
Stoff auf. Nach dem Färben erscheinen diese in Weiß auf blauem Grund.
Gefärbt wird mit Auszügen der Indigopflanze, sie wächst in Indien und
Guatemala. Damit die Stoffe das Blau satt aufnehmen, taucht Starcken sie
immer wieder in die Küpe, so heißt die Färbertonne. Dazwischen muss der
Stoff an die Luft, denn erst durch Oxidation entwickelt sich die Endfarbe.
Erst ist sie weiß, dann grün und endlich tief blau. „Das hat etwas
Mystisches“, sagt Starcken.
Die Magie: Ein Zauber liegt auch darin, wie Starcken zu seinem Handwerk
gekommen ist. Er erzählt es so: Ende der Siebzigerjahre, da ist er Mitte
20, studiert Starcken Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität in
Ostberlin. Eines Tages betritt er ein Antiquariat in der Frankfurter Allee,
zufällig, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. In einem Regal liegen fünf
Gegenstände aus Holz, flach, mit einer Schnitzerei auf der Oberfläche. Dass
das Druckplatten sind, erkennt Starcken, doch wozu sie verwendet werden,
weiß er nicht. Sie ziehen ihn an, die feinen Muster, die Blumen und
Ornamente. Fünfzehn bis zwanzig Mark will der Verkäufer pro Platte. Das ist
viel Geld für Starcken, aber er kauft die fünf Druckstempel trotzdem.
Die Berufung: Die Druckplatten werden zu Starckens neuer Aufgabe. Sein
Studium interessiert ihn ohnehin immer weniger, die Rechtswissenschaften
sind ihm zu ideologisch, zu sozialistisch. In der DDR entscheidet
Parteitreue, ob man großer Richter oder kleiner Notar wird, Fleiß oder
Fähigkeiten zählen nicht. Starcken will das nicht mitspielen.
Die Neugier: Statt im Lesesaal der Humboldt-Universität Rechtstexte zu
studieren, sitzt er nun ständig in der Stadtbibliothek und schlägt nach,
liest alles, was er über Drucktechniken finden kann. Er lernt, dass seine
Druckplatten Model heißen und für den Blaudruck genutzt werden. Kurz danach
bricht er sein Studium ab. Um Geld zu verdienen, arbeitet er bei der Post,
ein Jahr lang nimmt er Pakete an und gibt sie aus. In jedem freien Moment
liest er weiter und trifft eine Entscheidung. Er wird Blaudrucker.
Der Anfang: In seinem Jahr bei der Post bereitet Starcken sich vor. Er legt
Geld zurück. Er beginnt Materialien zu beschaffen. Beharrlich quatscht er
sich durch, bis er auch ohne Genehmigungen in der DDR alles kaufen kann,
was er braucht. Als erstes Gummi arabicum und Tonerde, um Papp zu kochen.
Die Masse wird auf die Druckstempel aufgetragen und dann auf den Stoff
gepresst, nach dem Färben und Waschen bleibt das weiße Muster zurück. Neun
Monate verbringt er damit, nach Rezepten aus alten Büchern Papp zu kochen,
immer wieder, bis der erste gelingt.
Der Wille: Wenn Starcken von sich und seinem Beruf erzählt, dann gibt es da
viele dieser Momente, in denen er dranbleibt, weitermacht, sich seinen Weg
aus eigener Kraft freischlägt. In der DDR braucht er, um ein Handwerk
eintragen zu können, eine Ausbildung, einen Nachweis darüber, dass seine
Tätigkeit einen Nutzen hat. Aber für einen wie ihn gibt es keine
Musterurkunde, und es gibt auch keine anderen Blaudrucker, die
Ausbildungsplätze anbieten.
Der Weg: Unter der Woche arbeitet er am Hackeschen Markt in einer
Siebdruckerei, seine Tage fangen jetzt im Morgengrauen an. Freitags und
samstags besucht Starcken in Leipzig eine Schule und lässt sich zum
Druckereifacharbeiter ausbilden. Am Frauentag 1982 hat er es geschafft. Mit
seiner Urkunde darf er sich selbstständig machen. Jetzt ist es ihm auch
erlaubt, Material für seinen Papp und für seine Küpe zu kaufen. 1983
bedruckt er in seinem Atelier die ersten Stoffe. Später legt er noch eine
Prüfung ab, um „Anerkannter Kunsthandwerker“ zu werden, denn damit dürfen
seine Stoffe auch im staatlichen Kunsthandel verkauft werden.
Der Meisterbrief: In den Gesetzesblättern zum Handwerk liest Starcken, dass
es für seltene Berufe eine Meisterausbildung geben soll, auch für den
Blaudrucker. Der Bezirk Dresden sei dafür zuständig. Dort weiß zwar niemand
davon, aber Starcken besteht auf seinem Recht. Er darf die Prüfung ablegen
und wird der erste Blaudruckmeister. Nach ihm gehen nur wenige andere
diesen Weg, und nach der Wende entscheidet eine Kommission, welche
Meisterberufe noch benötigt werden. Der Blaudruckmeister gehört nicht dazu.
Inzwischen ist Starcken der einzige Drucker mit Meisterbrief, der noch
arbeitet.
Die Wende: Den staatlichen Kunsthandel gibt es im geeinten Deutschland
nicht mehr, aber die Unsicherheit, die daraus entsteht, bleibt nicht lange.
Über die verschwundene Grenze kommen Zeitungen nach Rahnsdorf. Der
Tagesspiegel berichtet über das Atelier, Schöner Wohnen druckt eine
mehrseitige Strecke. „Das hat uns gerettet“, sagt Starcken, die Nachfrage
stieg. Auch ins Schloss Bellevue schaffte es so eine Tischdecke, die
Starcken bedruckt hat.
Der Sohn: Seit 42 Jahren kann die Familie vom Blaudruck leben. Aber Holger
Starcken wird älter und um die schweren nassen Stoffe aus der Küpe zu
heben, braucht man Kraft. Einen Teil der Arbeit hat inzwischen der jüngste
seiner vier Söhne übernommen: Richard, der schon als Kleinkind mit seinem
Vater an der Küpe stand. Nach der Schule arbeitete er als Hotelfachmann,
als Tourismusmanager, in der Gastronomie und studierte ein paar Semester
Forstwissenschaft. Aber er hat nie ganz losgelassen, war immer da, um
seinem Vater zu helfen. Erst nur nebenbei, inzwischen ist das Blaudrucken
zu seinem Beruf geworden.
Der Assistent: Wenn Richard Starcken darüber spricht, was ihn antreibt,
erzählt er von denen, die seine Stoffe kaufen. Ein Stück Blaudruck
mitzunehmen, das mache den Leuten spürbare Freude. Er glaubt, dass das an
der Geschichte, der Blaudrucktradtion liegt, die jedes Stück verkörpert.
Und in der Zukunft, denn das Blau in den Stoffen hält ewig und kann über
Generationen weitergegeben werden.
Die Gegenwart: Inzwischen verkaufen die Starckens auf Kunstmärkten, von
Oktober bis März sind sie dazu in ganz Deutschland unterwegs. Das ist viel
Arbeit. Doch ein Onlineshop kommt für sie nicht in Frage, viel zu groß wäre
der Aufwand – die Stücke zu fotografieren und zu katalogisieren –, denn
jedes ist ein Unikat. Zu expandieren, ist ohnehin nicht das Ziel. Sechs bis
sieben Stunden täglich wird im Atelier gedruckt, und obwohl sie mit den
Jahren ein bisschen schneller geworden sind, bleibt eine Grenze: „Ich kann
nicht mehr drucken und färben, als der Tag hergibt“, sagt Starcken.
2 Dec 2024
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[1] /Ein-Blaudrucker-bei-der-Arbeit/!5115245
## AUTOREN
Luisa Faust
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