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# taz.de -- Irritationen vorm Fenster: Während die anderen schreiben
> Unsere Kolumnistin schaut aus dem Fenster und lässt sich beim Nichtstun
> stören: ein sonderbarer Weg nach außen und weg von den eigenen Gefühlen.
Bild: Hilft manchmal, die Dinge in Ordnung zu bringen: schreiben
Ich sitze in einem Seminar, das ich selbst leite, und während die
Seminarteilnehmer*innen schreiben, sehe ich rückwärtsgewandt aus dem
Fenster in ein Fenster gegenüber, in dem ein fast nackter Mann sich reckt.
Fast, weil er noch eine Unterhose trägt, eine von den eng anliegenden, aus
Jersey, mit breitem Gummibund. Er steht auf etwas, vielleicht auf einem
Stuhl, vielleicht auch auf dem Fensterbrett, denn ich kann ihn im Ganzen
sehen, von den Füßen bis zum Kopf, er füllt das Fenster mit seinem Körper
aus, der Fensterrahmen ist sein Rahmen.
Er ist ein Bild, das ich betrachte, während um mich herum geschrieben wird
und ich gerade keine Rolle spiele. Ich muss nicht schreiben und nichts
sagen. Ich betrachte den fast Nackten, der sich reckt, die Arme erhoben, er
sieht mich nicht, er könnte es, aber er tut es nicht. Er ist mit was
beschäftigt?
Ich bin mit ihm beschäftigt, um mich herum sind sie mit ihren Texten
beschäftigt, ich bin außerhalb von allem. So fühlt es sich für mich an.
Gefühle sind selten intelligent oder richtig. Aber man soll sie annehmen
und umarmen, das habe ich [1][in den letzten Wochen gelernt], nicht
verinnerlicht. Ich beobachte lieber, aus dieser Position des Außerhalb von
allem, als meine Gefühle zu umarmen.
Ich beobachte den fast nackten Mann, ich lasse ihn nicht aus den Augen, die
Luft zwischen uns, zwischen den beiden Fenstern – unten die schmale Straße
–, ist milchig, sie hat eine traurige und resignierte Konsistenz (Ich weiß
nicht, ob ich ihnen, die jetzt schreiben, diese Adjektivzuschreibungen für
Luft durchgehen lassen würde), das Licht, das sanfte, bricht sich in den
Staubkörnchen, in dem Gespinst, das die Tage im Herbst so voll und satt
macht, und all das bildet den feinen Schleier, der zwischen uns liegt, dem
fast nackten Mann und mir. Und dass ich nicht weiß, was er hat, was er da
aufführt, für wen, für mich?
Um mich herum wird geschrieben. Die Ruhe der Arbeit. Ich betrachte. Ich bin
in Sicherheit und warte. Darauf, dass sie gleich fertig sind und ihre Augen
und Ohren wieder mir zuwenden, dass ich wieder eintrete, in die gemeinsame
Welt. Während ich meine Augen nicht von dem Mann lassen kann. Der eine
Störung darstellt, eine Irritation, weil ich ihn nicht verstehe. Seine
Bewegungen an diesem Fenster, seine Streckung, seine Fastnacktheit, sein
Ausharren in diesem Zustand. Zeigt sich jemand, sehe ich hin, ich kann
nicht anders. Das gilt für alles, für den Zustand der Welt.
Am Morgen schon lese ich die Nachrichten. Ich sehe die Verlorenen, die
vielleicht noch nicht verloren sind, am Bahnhof, [2][wo ich wohne]. Ich
sehe, wie sie da auf dem Mäuerchen kauern, höre sie brüllen und streiten.
Ich sehe es alles, aber es ist immer zu wenig. Es reicht nicht aus für
mich, um zu verstehen. Verstehen ist heut nicht im Angebot, „ham wa nicht
da“. Es erreicht mich manchmal, selten, blitzartig, unerwartet. Mehr
bekomme ich nicht, mehr darf ich nicht erwarten. Schreib das auf, Katrin!
Das ist ein Weg, ein (schwacher) Halt.
Die Seminarteilnehmer*innen sind fertig. Sie legen ihre Stifte weg,
sehen mich an. Sie vertrauen mir und einander ihre Texte an. Ich bin
gerührt. Geschichten sickern in mich ein, Text ist ein Weg, kein Ausweg.
Ein Blick zum Fenster: Der Mann ist weg. Wo er war, ist jetzt nur noch
Weiß, wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Er hat ein Rollo angebracht.
5 Nov 2024
## LINKS
[1] /Bautzen-und-die-Frage-worauf-es-ankommt/!6028030
[2] /Von-Wohnungswechsel-und-Herbstblues/!6035991
## AUTOREN
Katrin Seddig
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