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# taz.de -- Studie über Kinderverschickungen: Erinnerungen, die für immer ble…
> Ein Kieler Team erforscht Historie der Kinderverschickung nach St.
> Peter-Ording. Das ist bundesweit ein Novum, lange wurde über das Thema
> geschwiegen.
Bild: Schläge und Essensentzug: Etliche Kinder litten während ihrer „Kur“
Salzwiesen, Watt, Sandstrand: Die Gemeinde St. Peter-Ording in
Nordfriesland ist ein malerischer Ort. Hier tue man „nicht nur der Seele
etwas Gutes, sondern auch der eigenen Gesundheit“, lockt seine
Tourismus-Zentrale. Hier entstünden „Erinnerungen, die für immer bleiben“.
Einige, die zwischen 1945 und den 1990ern wegen der Gesundheit kamen,
[1][als „Verschickungskinder“], von Haus-, Amts- und Schulärzten für eine
Kur empfohlen, gingen in der Tat mit Erinnerungen, die für immer blieben.
Es waren Ängste und Traumata. Sie waren ohne ihre Eltern hier, oft für
viele Wochen, in kirchlichen, staatlichen, privaten Heimen, manche erst
zwei Jahre alt.
[2][In rund 1.000 Einrichtungen fanden diese Kuren statt], bundesweit. In
St. Peter-Ording ballten sich bis zu 50 davon. 325.000 Kinder und
Jugendliche kamen insgesamt hierher, wegen Unterernährung, Bewegungsmangel,
Hauterkrankungen, Atemstörungen, Tuberkulose. Manche empfanden die Kur als
Tortur.
## Runder Tisch ist bundesweit einmalig
Seit 2021 befasst sich [3][ein Team der Christian-Albrechts-Universität zu
Kiel] (CAU) unter Leitung des Soziologen Peter Graeff und des Historikers
Helge-Fabien Hertz mit dem, was damals geschah. Ein ehemaliges
Verschickungskind hatte der Gemeinde seine Geschichte erzählt. Die rief
eine Arbeitsgruppe ins Leben und gab der CAU den Auftrag, Licht ins Dunkel
zu bringen.
Das ist geschehen, durch Archivmaterial, Interviews und Fragebögen. Eine
Monografie steht kurz vor dem Abschluss. Eine Ausstellung entstand:
„[4][Kinderkurheime in St. Peter-Ording: Orte der Erholung, Orte der
Gewalt?]“ Jüngst startete ein Runder Tisch mit Betroffenen, einstigem
Heimpersonal, AnwohnerInnen, Gemeinde-VertreterInnen sowie Angehörigen des
schleswig-holsteinischen Ministeriums für Justiz und Gesundheit. Vier
Sitzungen sind geplant, bis hinein in den Herbst 2025.
Die erste habe in „erfreulich guter, sehr konstruktiver Atmosphäre“
stattgefunden, sagt Hertz, der die Runde koordiniert und moderiert. „Das
hätte auch anders sein können, denn das ist ja ein sehr emotionales,
leidvolles Thema. Da prallen sehr unterschiedliche Sichtweisen
aufeinander.“ Der Runde Tisch sei „bundesweit das erste Format, in dem
Betroffene, die als Kinder in der Verschickung negative Erfahrungen gemacht
haben, mit ehemaligem Heimpersonal sprechen, das diese Zeit positiv erlebt
hat“, sagt Hertz. „Unser Dreiklang aus Forschung, Ausstellung und Dialog
ist auf Multiperspektivität ausgerichtet.“
Was in St. Peter-Ording geschieht, ist bundesweit ein Novum. „Über dieses
Thema ist sehr lange geschwiegen worden“, sagt Hertz. Erst ab 2019 sei die
Verschickung in einer breiteren Öffentlichkeit kritisch hinterfragt worden.
„Da fragt man sich natürlich, wie das sein kann. Vielleicht haben Eltern
ihren Kindern damals nicht geglaubt? Vielleicht waren Kinder damals zu
eingeschüchtert, um zu Hause davon zu erzählen?“
Es sei zu körperlicher Züchtigung gekommen, sagen Betroffene, zu
Einsperrungen, Essensentzug und Essenszwang. Es habe Beschimpfungen
gegeben, Herabsetzung, Postzensur, Verbote. Vom Essenmüssen bis zum
Erbrechen ist die Rede. Vom Liegen in Kot und Urin. Vom militärischen
Gleichschritt-Marschieren statt freiem Spiel im Sand.
In den damaligen Akten findet sich dazu kaum etwas. Das gilt auch für
Berichte des Heimpersonals und für Berichte von Kindern mit neutralen oder
positiven Erfahrungen. Das CAU-Team muss nun Subjektives wissenschaftlich
fassen. Viele der damals auch in Familien und Schulen üblichen, aus
heutiger Sicht bedenklichen Erziehungsmethoden seien „den Bedürfnissen von
Kindern nicht gerecht“ geworden, heißt es in der Ausstellung. Belege für
„systematische Gewaltanwendungen aus niederen oder ideologischen
Beweggründen“ gebe es aber nicht.
## Keine juristischen Folgen
„Knapp 3.000 einstige Verschickungskinder haben sich bis heute in einem
Forum der [5][Bundesinitiative ‚Verschickungskinder‘] mit Kritik zu Wort
gemeldet“, sagt Hertz. Mit Berichten über Strenge und Zwänge, über Schläg…
über Sitz- oder Stehstrafen. „Aber das lässt natürlich nicht den Schluss
zu, dass es bei allen der schätzungsweise rund zehn Millionen
Verschickungskinder ähnlich war.“
Juristisch haben die Geschehnisse von St. Peter-Ording keine Folgen mehr;
sie sind verjährt. Innerlich aber wirkt es nach. „Das ist ja ein Trauma,
das weitergegeben wird“, sagt Svenja Sassen, Vorsitzende des Ausschusses
für Jugend, Kultur, Bildung und Sport in St. Peter-Ording. „Und je mehr man
sich damit befasst, desto tiefer bewegt das.“ Sassen diskutiert am Runden
Tisch mit. „Ich finde es toll, dass wir als Gemeinde uns all das leisten“,
sagt sie – die Aufklärungsarbeit sei schließlich nicht umsonst.
Es gebe „keine einfachen Antworten“, sagt Soziologe Peter Graeff, der die
CAU-Arbeitsgrupe leitet. Dazu gehört: St. Peter-Ording, in der Arbeit
seiner Aufarbeitung beispielgebend, war Teil eines Systems. Aber das lässt
sich nicht verallgemeinern.
28 Oct 2024
## LINKS
[1] /Journalistin-ueber-Kinderverschickung/!5941724
[2] /Verschickungskinder-beim-Roten-Kreuz/!6000563
[3] /!5883796/
[4] https://www.soziologie.uni-kiel.de/de/professuren/professur-fuer-soziologie…
[5] https://verschickungsheime.de/die-bundeweite-initiative-verschickungskinder/
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Kinderverschickung
Kinderheim
Psychische Belastungen
Gewalt gegen Kinder
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