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# taz.de -- Studie zu Zweitem Weltkrieg: „Die Deutschen sind nackt und sie sc…
> Tatjana Tönsmeyer untersucht die Narrative des 2. Weltkrieges. Die Studie
> „Unter deutscher Besatzung“ zeigt die Wechselwirkungen des Krieges auf.
Bild: Deutsche Soldaten fahren auf ihren Panzern sitzend durch Marseilles, 1942
Für die meisten Europäer war der Zweite Weltkrieg eine Zeit unter
Besatzung. Gerade in den ersten Feldzügen der deutschen Wehrmacht dauerten
die eigentlichen Kämpfe nur wenige Wochen, [1][während viele Länder fünf
oder sechs Jahre lang besetzt blieben]. Für die unter deutsche Herrschaft
gefallenen Gesellschaften bedeutete dies häufig hohe Verluste, Zerstörung
und Angst, es bedeutete aber auch, in einer neuen Ordnung anzukommen. Eine
Ordnung mit ihren eigenen sozialen Verhaltensweisen, Ausschlussmechanismen
und Handlungsrisiken.
Die Historikerin Tatjana Tönsmeyer folgt in ihrer Studie „Unter deutscher
Besatzung“ dem Ansatz, in einem transnationalen Blick auf die
[2][Wechselwirkungen von Besatzern und Besetzten] zu schauen. Während es
Kilometer an Literatur über Besatzung und Widerstandsbewegungen in
einzelnen Ländern, die Vernichtungspolitik der Deutschen und andere Aspekte
gibt, schließt sie nach jahrelanger Arbeit eine Darstellungslücke: Eine
Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft von Narvik bis in die
Peloponnes, von der Atlantikküste bis in den Kaukasus.
Das birgt das hohe Risiko, Unterschiede zwischen den einzelnen
Besatzungsregimen unsichtbar zu machen, weswegen die Autorin so
grundsätzlich zu sein versucht wie nur möglich. So heißt es bei ihr
definitorisch: „Besatzung bedeutete die Anwesenheit der Besatzer – in
persona und in ihren Maßnahmen und Regelungen.“
## Augenzeugenberichte sind die Stärke
Anwesenheit bleibt im Buch ein zentraler Begriff. Denn mit der Präsenz der
Deutschen änderte sich die Lage der Besetzten grundlegend. Eine der Stärken
des Buches besteht darin, dass Tönsmeyer klug und vorsichtig historische
Studien mit Augenzeugenberichten unterfüttert.
Immer wieder zitiert sie beispielsweise den französischen Schriftsteller
Léon Werth. Er und andere beschrieben, wie sich die Atmosphäre, die
Temperatur, der Geräuschpegel durch die Anwesenheit der stationierten
Deutschen in den Städten und Orten veränderte: „Sie sind dauernd nackt,
nackt, wenn sie essen, nackt, wenn sie ihr Gewehr putzen, nackt, wenn sie
rauchen. Sie sind nackt und sie schreien.“
Deutschland erwies sich als ein überaus paradoxer Besatzer. Er wollte
gleichzeitig Ordnung aufrechterhalten und zerstören, wirtschaftlich
maximalen Nutzen ziehen und gleichzeitig rassistische Bio- und
Vernichtungspolitik betreiben. In diesem Geflecht an undurchschaubaren
Zielkonflikten versuchten sich die Besetzten so gut es ging zu arrangieren.
## Das Militär mit Kontrollfunktion
Das fing bei banalen Dingen wie dem Einhalten der Grußpflicht gegenüber
deutschen Soldaten an und ging bis zur politischen Kooperation: Da die
Deutschen gar nicht über das Personal verfügten, die eroberten Gebiete
selbst zu verwalten, beließen sie an vielen Orten die Verwaltung im Amt und
überstellten ihr einen Militärbefehlshaber.
In allen Besetzungskonstellationen waren Juden immer die vulnerabelste
Gruppe, wie Tönsmeyer betont. Sie waren vor allem bedroht durch die
Deutschen, doch viele der besetzten Gemeinschaften, in denen sie lebten,
waren ebenfalls schnell für antisemitische Pogrome zu entflammen. Das
Bewirtschaften von Ressentiments war eine der Kernkompetenzen der
nationalsozialistischen Besatzung. Das galt auch für ethnische Konflikte.
Doch auch für die nichtjüdische Mehrheit stellte sich die Besatzung bald
schon als eine Mangelgesellschaft heraus. Das ewige Schlangestehen wurde
zur täglichen Aufgabe, wer überleben wollte, musste aus sehr wenig das
Nötigste machen. Viele wollten mit der Arbeit für die Deutschen ihre
Nahrungsrationen aufbessern, noch mehr wurden gezwungen: Auf dem Höhepunkt
geht die Forschung von 36 Millionen unfreien Arbeitsverhältnissen aus.
## Überleben durch Besatzungswissen und Diebstahl
Die Autorin stellt dar, wie diejenigen halbwegs unbeschadet durch die
Besatzungszeit kamen, die „occupation wisdom“, Besatzungswissen,
ausbildeten. Das bedeutete nicht nur, die neuen Regeln besser und schneller
als andere zu verstehen, sondern auch, die Umkehr von Ordnung zu
akzeptieren: So etablierte sich schnell der Diebstahl als eine neue Norm
des Über- und Zusammenlebens.
Bevor ein falscher Eindruck entsteht: Der Autorin ist klar, dass sich „zu
arrangieren“ nur jenen vergönnt war, die dafür Spielraum hatten. Juden,
Sinti*zze und Rom*nja, nicht-arbeitsfähige Menschen oder andere
vulnerable Gruppen kamen häufig gar nicht in die Gelegenheit, den kleinen
Spielraum zu nutzen, den Besatzungsgesellschaften ließen. Selbst jene, die
nicht direkt bedroht waren, mussten die tagtägliche Gewalt aushalten:
Gerade Frauen waren Opfer körperlicher Gewalt und Demütigungen.
Doch in ihrer Betrachtung entdeckt die Autorin auch ein Moment der
Selbstermächtigung: Sie zeichnet an verschiedenen Beispielen nach, wie es
Gemeinschaften unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch
Solidarität gelang, Menschen zu schützen. Auch die neuen Ordnungen ließen
sich untergraben, unterhöhlen und zum Guten ausnutzen. Dass wir, die wir
nicht im Krieg leben, besser verstehen lernen, was es heißt, unter
Besatzung zu sein, ist das Verdienst dieses erschütternden und
kenntnisreichen Buches.
27 Dec 2024
## LINKS
[1] /Deutsche-Besatzung-in-Frankreich/!5966465
[2] /Planet-ohne-Visum-von-1947/!5890123
## AUTOREN
Gerrit ter Horst
## TAGS
wochentaz
Politisches Buch
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Besatzung
Antisemitismus
Kriegsverbrechen
Jan Korte
Polen
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