# taz.de -- Unerkannte Behinderungen in der Pflege: Das System hat blinde Fleck… | |
> Menschen mit Behinderungen sind oft unterversorgt. Eine Studie der Uni | |
> Hamburg zeigt, dass Seh- und Hörprobleme in der Pflege oft unerkannt | |
> bleiben. | |
Rendsburg taz | Das Gesundheitssystem ist kaum auf Menschen mit | |
Behinderungen vorbereitet: Sei es, dass Stufen den Weg in die Arztpraxis | |
versperren oder dass Demenzkranke hilflos durch Krankenhausflure irren. | |
Eine aktuelle [1][Studie] der Universität Hamburg weist auf ein weiteres | |
Problem hin: Demnach bleiben Seh- und Hörbeeinträchtigungen bei Menschen | |
mit komplexer Behinderung häufig unerkannt, heißt es in einer | |
Pressemitteilung. Aber es gibt auch Projekte und Modelle, um Menschen mit | |
Behinderungen medizinisch besser zu betreuen. | |
19 Wohneinrichtungen für Menschen mit geistigen und mehrfachen | |
Behinderungen nahm das Forschungsteam unter die Lupe. Beteiligt waren neben | |
der Hamburger Uni die Blindeninstitutsstiftung, die | |
Ludwig-Maximilians-Universität München und die Pädagogische Hochschule | |
Heidelberg. Das bayerische Gesundheitsministerium förderte die dreijährige | |
Arbeit mit 420.000 Euro. | |
Das Ergebnis bestätigte den Verdacht der Forschenden: 88 Prozent der | |
Menschen in Wohneinrichtungen haben eine Sehbeeinträchtigung, fast | |
Dreiviertel von ihnen hören schlecht. Bei 63 Prozent treten beide Probleme | |
auf – und oft bleiben sie unentdeckt. Aber „wenn übersehen wird, dass | |
komplex behinderte Menschen nur wenig oder gar nichts sehen oder hören, hat | |
das große Auswirkungen auf ihren Alltag“, sagt Johannes Spielmann, Vorstand | |
der Blindeninstitutsstiftung. | |
## Schon 2009 auf dem Ärztetag diskutiert | |
Ein Problem sei, dass in den Einrichtungen zu wenig auf gute Beleuchtung | |
oder gute Akustik geachtet werde, sagt Marie-Luise Schütt, die als | |
Koordinatorin barrierefreier Bildungsprozesse in Schule und Hochschule am | |
Zentrum für Lehrkräftebildung Hamburg die Studie leitete. Es gebe bei den | |
Mitarbeitenden der Einrichtungen einen hohen Bedarf an Schulungen in diesem | |
Bereich gibt, so Schütt. | |
Aus den Ergebnissen der Studie haben die Forschenden Verbesserungsmaßnahmen | |
und praxisnahe Tipps abgeleitet und in einer Broschüre unter dem Titel | |
„Sehen und Hören mitdenken“ zusammengefasst. Sie kann kostenlos auf der | |
Website der Blindeninstitutsstiftung heruntergeladen werden. | |
Nicht nur in diesem Fall sind Menschen mit schweren Behinderungen | |
unterversorgt. Es fehlt in Praxen und Krankenhäusern an Personal und Zeit, | |
auch wirtschaftliche Gründe spielen eine Rolle: Da Behandlungen pauschal | |
abgerechnet werden, sind aufwändige Untersuchungen unrentabler. | |
Der Deutsche Ärztetag diskutierte das Problem bereits 2009, sah aber die | |
Kassen in der Pflicht: So forderte der Vorstand der Bundesärztekammer, dass | |
der „erhöhte Aufwand an Zeit und Ressourcen durch organisatorische und | |
strukturelle Anpassungen im Gesundheitswesen entsprechend flankiert und | |
finanziert werden“ müsse. | |
Eine Antwort darauf sind die Medizinischen Zentren für Erwachsene mit | |
Behinderungen (MZEB), die 2015 als neuer Baustein des Gesundheitssystems | |
entstanden sind. Inzwischen gibt es sie in mehreren Bundesländern. Im | |
August öffnete in Lübeck das erste MZEB in Schleswig-Holstein, das Land | |
fördert die Einrichtung mit 500.000 Euro. | |
Ärzt:innen aus dem ganzen Land können Patient:innen, die einen Grad der | |
Behinderung von mindestens 70 haben, in die Spezial-Praxis schicken. Sie | |
ist an das Uni-Klinikum angedockt, sein multiprofessionelles Team kann im | |
Bedarfsfall auf das Know-how und die Geräte des Klinikums zugreifen. | |
Die Landes-Behindertenbeauftragte Michaela Pries lobte das neue Angebot, | |
wies aber auch darauf hin, dass es nicht ausreiche: „Wichtig bleibt, dass | |
das Regelangebot in der Gesundheitsversorgung inklusiv ausgerichtet ist. | |
Insbesondere die umfassende Barrierefreiheit ist bei vielen Angeboten noch | |
ausbaufähig.“ | |
Das gilt auch für Krankenhäuser. Erst nach und nach stellen sich Kliniken | |
darauf ein, dass Patient:innen nicht nur an einer Krankheit leiden, | |
sondern darüber hinaus Pflege brauchen. So gibt es in einzelnen Häusern – | |
etwa dem Malteser-Krankenhaus in Flensburg – sogenannte Silvia-Stationen, | |
in denen [2][Menschen mit Demenz] der ungewohnte und verwirrende | |
Krankenhaus-Aufenthalt erträglich gemacht werden soll. | |
## Eine neue Betreuungskultur | |
Dahinter steht die schwedische Silviahemmet-Stiftung, die von Königin | |
Silvia ins Leben gerufen wurde, nachdem ihre Mutter an Demenz erkrankte. | |
Dass auch kleine Maßnahmen viel bewirken können, zeigt eine Initiative der | |
Zahnärztekammer Hamburg: Sie ermutigt Ärzt:innen zu Hausbesuchen und gibt | |
Tipps, [3][wie in Pflegeheimen] oder bei Pflegebedürftigen zu Hause | |
behandelt werden kann. Angehörige bekommen Tipps zum richtigen Zähneputzen. | |
Dahinter stecken durchaus egoistische Motive, verrät das Autoren-Team der | |
Info-Broschüre: „Üben wir jetzt eine neue Betreuungskultur ein – damit wir | |
später auch davon profitieren.“ | |
27 Oct 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.blindeninstitut.de/de/aktuelles/stiftung/projekt-suhb/ | |
[2] /Demenzrisiko-vermindern/!6026509 | |
[3] /Pflegeversicherung-unter-Druck/!6041134 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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