| # taz.de -- Überleben im Gazastreifen: An die Wand des Wassertanks klopfen | |
| > Unser Autor in Gaza erzählt von einer palästinensischen Geschichte und | |
| > fragt: Wie können Palästinenser sich Gehör verschaffen und den Tod | |
| > verhindern? | |
| Bild: Palästinenser:innen begutachten die Schäden in einem Zeltbereich im Hof… | |
| Es gibt eine berühmte palästinensische Geschichte, die von Menschen | |
| erzählt, die sich in einem Wassertank versteckten. Als sie starben, gaben | |
| alle ihnen die Schuld, weil sie nicht an die Wand des Wassertanks geklopft | |
| hatten. Warum klopfen wir hier in Gaza nicht an die Wand des Wassertanks? | |
| Für einige hier in Gaza ist klar, dass wir dies bereits tun. Dass die | |
| Schreie, die Toten und die verstümmelten Körper vor den Augen der Welt | |
| unsere Weise sind, an den Wassertank zu klopfen. [1][Aber die Außenwelt hat | |
| ihre eigene Wahrnehmung von den Menschen in Gaza und von ihrer Reaktion auf | |
| das, was ihnen widerfährt.] Viele denken, dass wir uns [2][gegen die | |
| Regierung von Gaza] erheben und sie stürzen sollten. Und es stimmt ja: Die | |
| Regierung hat den Palästinensern Unrecht getan, aber dies ist nicht der | |
| richtige Zeitpunkt für eine Erhebung. | |
| Der Krieg wird nicht nur den Palästinensern aufgezwungen. Wenn ein Mensch | |
| getötet oder gefoltert wird, müssen nach islamischem Glauben alle anderen | |
| ihm beistehen und versuchen, ihn vor dem Tod zu bewahren. Auf diese Weise | |
| richtet sich der Krieg nicht nur gegen die Palästinenser. Die Welt muss | |
| ihnen helfen, ihnen beistehen und ihre Tötung verhindern. Dieser Krieg | |
| wirft die Frage neu auf, was es bedeutet, Mensch zu sein. Ein Mensch im | |
| Abstrakten, ohne Rücksicht auf Nationalität oder Klasse. | |
| ## Was bedeutet es, Mensch zu sein? | |
| Klopfen wir genug an die Wand? Nein! Wir müssen nicht nur an die Wand | |
| klopfen, wir müssen sie durchbrechen. Aber wie? Die Menschen in Gaza sind | |
| [3][auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben], das sie durch die | |
| Aggression verloren haben. Die Menschen suchen nach Seife, um ihre Körper | |
| und ihre Kleidung zu waschen. Reinigungsmittel werden seit Monaten nicht | |
| mehr geliefert, und die vor Ort hergestellten Produkte sind nicht | |
| ausreichend. | |
| Die Menschen suchen nach Shampoo, um ihre Haare zu waschen, nach einem | |
| sauberen Bad und Wasser, nach Schuhen, um die abgenutzten zu ersetzen. Sie | |
| suchen nach sauberen Straßen, in denen nicht an jeder Ecke Abwässer | |
| anfallen, die sie daran hindern, eine halbe Stunde zu Fuß zu gehen, um | |
| frische Luft zu atmen. | |
| Ich lege jeden Tag weite Strecken zu Fuß zurück, weil es manchmal schwierig | |
| ist, sich fort zu bewegen. Obwohl es viele von Eseln gezogene Karren gibt, | |
| fahre ich nicht immer mit ihnen. Ich leide seit Beginn der Aggression an | |
| Hodenschmerzen und sollte wegen einer Varikozele operiert werden. | |
| Vor zwei Tagen beschloss ich, mich operieren zu lassen, aber nach einigem | |
| Überlegen habe ich meine Entscheidung wieder zurückgenommen. Die | |
| Krankenhäuser im Gazastreifen leiden unter einem erheblichen Mangel an | |
| medizinischen Hilfsmitteln; und ich habe Angst vor der kontaminierten | |
| Umgebung, die durch die ständigen Bombardierungen entsteht. Ich könnte mir | |
| eine Infektion oder Entzündung einfangen, und unter diesen Bedingungen wäre | |
| es schwierig, eine Behandlung zu bekommen. Also werde ich die Schmerzen | |
| ertragen, bis ich mich in Gaza oder außerhalb operieren lassen kann. | |
| Es gibt einen Freund, der mich jeden Tag begleitet, wenn ich auf die Straße | |
| gehe, um zu atmen. Ich liebe es, das Zelt zu verlassen und eine | |
| Viertelstunde oder eine halbe Stunde zu gehen, um alles um mich herum zu | |
| spüren – die Luft, den Boden, die Olivenbäume. Ich fühle mich durch die | |
| Anwesenheit unserer Identität um uns herum getröstet; mit uns gemeinsam | |
| hält sie sich dennoch aufrecht. Dieser Freund ist mein abgenutzter Schuh. | |
| ## Mein Schuh ist müde und will aufgeben | |
| Er hat mich zehn Monate lang begleitet, aber vor einigen Monaten begann er | |
| sich aufzulösen. Bei den häufigen Spaziergängen auf den Straßen der Stadt | |
| hat er Risse bekommen. Er hat sich oft verlaufen und neue Wege | |
| kennengelernt, aber jetzt fühlt er sich müde und will aufgeben. | |
| Ich habe an vielen Orten nach einem neuen Schuh gesucht, aber ich konnte | |
| meine Größe nicht finden. Mein Schuh hat all meine Geschichten der letzten | |
| Monate miterlebt – all die schwierigen Zeiten, in denen ich vor den Panzern | |
| floh, in denen ich mich flach auf den Boden legte, um dem Feuer der | |
| Besatzungsflugzeuge zu entgehen, und in denen ich nach einem neuen Ort | |
| suchte, an den ich fliehen könnte. | |
| Wir versuchen hier, unser Leben wie jeder normale Mensch zu leben: zu | |
| schlafen, zu arbeiten, eine Familie zu gründen und Kinder zu großzuziehen. | |
| Aber die Besatzung hat uns die Schuhe weggenommen und uns gezwungen, barfuß | |
| unseren Träumen entgegen zu gehen, mit unseren verwundeten Füßen. | |
| 23 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Berichterstattung-ueber-Nahostkonflikt/!6031066 | |
| [2] /Proteste-von-Geiselangehoerigen-in-Israel/!6032314 | |
| [3] /Krieg-im-Gazastreifen/!6017300 | |
| ## AUTOREN | |
| Esam Hajjaj | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Gaza-Tagebuch | |
| Israel | |
| Hamas | |
| Kolumne Gaza-Tagebuch | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Kolumne Gaza-Tagebuch | |
| Kolumne Gaza-Tagebuch | |
| Israel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Alltag in Gaza: Noch einmal duschen, bevor wir flüchten. | |
| Unsere Autorin zögerte ihre Flucht hinaus, um Erinnerungen für später zu | |
| sammeln: An ihr Zuhause, ihr Bett, ihre Kleider. Bis Granaten einschlugen. | |
| Krieg in Gaza: Die nackte Angst vor der letzten Nacht | |
| Einst bot die Nacht unserem Autoren aus Gaza Momente des Friedens. Doch vor | |
| einem Jahr haben sich die dunklen Stunden in einen Alptraum verwandelt. | |
| Kinder im Gazastreifen: Drachen steigen lassen im Krieg | |
| Als Kind liebte ich es, Drachen steigen zu lassen. Die Kinder in Gaza heute | |
| machen das noch immer – als ließen die Drachen ihre Ängste verfliegen. | |
| Krieg im Gazastreifen: „Zumindest haben wir noch Mehl“ | |
| Wenn sie irgendwann an den Krieg zurückdenkt, werde sie auch ans Backen | |
| denken, schreibt die 18-jährige Malak. Die Not habe sie zur Bäckerin | |
| gemacht. | |
| Geiselbefreiung im Gazastreifen: „Unser Überleben hatte Priorität“ | |
| Unser Autor lebt im Gazastreifen – genau in dem Viertel, aus dem die | |
| israelische Armee vor einer Woche Geiseln befreite. Ein persönlicher | |
| Bericht. |