# taz.de -- Vor der Landtagswahl in Brandenburg: Mach dir ma ne Platte! | |
> Umgeben von Wäldern und Windrädern suchen Menschen seit 30 Jahren nach | |
> blühenden Landschaften. Zwischen Wendetrauma und Zukunftsangst. | |
Bild: Nix los? Am schwarzen Brett sind nicht viele Aktivitäten ausgeschrieben | |
Brandenburg – da fährt man nicht hin, sondern durch. Der Kabarettist und | |
Liedermacher Rainald Grebe beschrieb 2004 Brandenburg mit: „Stehen drei | |
Nazis aufm Hügel und finden keinen zum Verprügeln.“ Er hat damit nicht so | |
ganz Unrecht, aber nur Schenkelklopfer bewirkt, kein politisches | |
Hinterfragen. Doch stecken in dem Satz zwei zentrale | |
Zustandsbeschreibungen: die Perspektivlosigkeit und die Kontinuität rechter | |
Gewalt. | |
Dass Nazis niemanden zum Verprügeln finden, würden wohl nicht nur die Opfer | |
rechtsmotivierter Angriffe verneinen. Laut dem [1][Verein Opferperspektive] | |
kam es 2023 zu 242 rechtsmotivierten Angriffen in Brandenburg, ein Anstieg | |
von 57 Prozent im Vergleich zu 2022. Die Baseballschlägerjahre sind nicht | |
vorbei, die Schläger nicht verschwunden. Sie haben inzwischen ein | |
bürgerliches Image und Kinder bekommen. Sie verschieben nun | |
generationsübergreifend die kulturelle Hegemonie immer weiter nach rechts. | |
Es geht nicht nur um Nazis, sondern auch um Menschen, die seit 30 Jahren | |
die blühenden Landschaften zwischen Wendetrauma und Zukunftsangst suchen. | |
Mit der sogenannten Wiedervereinigung erhielt der Kapitalismus entfesselt | |
Zugang zu neuen Märkten und begann zu wüten. Der Einverleibung der DDR | |
folgten Ausbeutung des Ostens und Zerstörung fast aller Strukturen. Es ging | |
nie um ein besseres Leben der Menschen, sondern darum, die Einflusssphäre | |
der BRD zu vergrößern. Ostdeutschland war und ist für den kriselnden | |
Kapitalismus der Bundesrepublik wichtig als Humankapital, Ressource und | |
Verteidigungslinie. | |
## Ost- und Westdeutschland gegen Rechtsruck | |
Dieser Tage fordern Kommentare von Westdeutschen, die Mauer wieder | |
aufzubauen, weil Ossis ihnen nur Nazis und Kosten gebracht hätten. Als | |
Menschen unerwünscht, für Profit und Müll ist der Osten aber willkommen. In | |
Debatten über Ostdeutschland prallen oft Perspektiven von Nichtverstandenen | |
und jenen aufeinander, die nicht verstehen wollen. Es wäre Zeit, dass auch | |
Westdeutsche ein Ostbewusstsein entwickeln. „Critical Westdeutschness“ wird | |
dies immer öfter genannt. | |
Noch immer zu wenig ernst genommen, gefragt und gehört – Ostdeutsche werden | |
weiterhin als Abweichung von der westdeutschen Norm benachteiligt, was sich | |
besonders in geringeren Löhnen bei sogar höherer Arbeitszeit zeigt. Nach | |
Angaben des Statistischen Bundesamts verdienten Vollzeitangestellte in | |
Ostdeutschland 2023 bis zu 824 Euro brutto im Monat weniger. Aus der | |
Erfahrung, vom Westen unsichtbar gemacht zu werden, manifestiert sich eine | |
immer stärker werdende ostdeutsche Identität, mit der versucht wird, den | |
über Jahre angestauten Frust umzuwandeln. Sie kann ein Gefühl der | |
Zugehörigkeit und Selbstermächtigung verleihen, das als Teil der BRD | |
vermisst wird, und vereint Generationen miteinander. | |
Und genau mit diesem diffusen Zugehörigkeitsgefühl lässt sich jetzt gut | |
Politik machen. Weil der Kulturkampf dem Klassenkampf vorgezogen wird, | |
konnte sich die AfD trotz fehlender sozialer Programmatik und mehrheitlich | |
Wessis in der Führungsriege ein Image als Ost- und Arbeiterpartei aufbauen. | |
Die Linke wandte sich der westdeutschen Linken zu und verlor so ihre | |
Ostidentität und damit Einfluss. AfD und BSW hingegen haben die klaffende | |
Lücke der Repräsentanz ostdeutscher (Arbeiter-)Perspektiven erkannt und | |
sich zu eigen gemacht. | |
Für die Demokratie muss im Osten gekämpft und der neue, alte Autoritarismus | |
bekämpft werden. Dafür benötigt es alle. Auch die Nicht-Ostsozialisierten. | |
Doch es wirkt unehrlich, wenn Berliner nach Brandenburg fahren, um dem | |
„Hinterland“ Demokratie und Werte zu bringen und abends wieder in ihre | |
städtische Wohlfühloase fliehen. Influencer und westdeutsche | |
Demokratieaktivisten haben erkannt, dass sich mit dem Osten Klicks | |
generieren lassen – ist es doch so mutig, zu den ganzen Nazis zu fahren. | |
Mehr als performative Posts und Selbstwertboosts kommen dabei oft nicht | |
zustande. Im Gegenteil, die oft gut gemeinte Unterstützung kann schnell | |
ernsthaften Schaden anrichten, wenn lokale Dynamiken und Situationen nicht | |
eingeschätzt und Aktive vor Ort übergangen werden. Als Ossi möchte man da | |
sagen: Der Osten ist nicht euer politisches Freizeitprojekt, sondern unsere | |
Lebensrealität, und wenn eins gar nicht gut ankommt, dann eine neue | |
Generation „Besserwessis“, die in den Osten fahren, um uns zu belehren. | |
Besser ihr kommt und unterstützt die bereits in einer Vielzahl | |
existierenden lokalen Projekte, denn sie sind da. | |
Selbst wenn es sich „janz weit draußen“ wie das Ende der Welt anfühlt, ist | |
Brandenburg mehr als ein Funkloch voller Hinterwäldler und Nazis, denen | |
demokratische Werte beigebracht werden müssen. Es ist unser Zuhause. Viel | |
ist gefährdet, aber wir haben die Wahl. Brandenburg, was soll nur aus dir | |
werden? „Mach dir ma ne Platte!“ | |
Corvin Drößler, 25 Jahre alt, ist als Dorfkind in der Ostprignitz | |
aufgewachsen und zum Studium der Geographie und Germanistik nach Potsdam | |
gegangen, ohne das Ruppiner Land zu verlassen. Zwischen Lohnarbeit und | |
Aktivismus wandert er durch die Mark und beobachtet und kommentiert das | |
Weltgeschehen. | |
Tim Gassauer, 27, aufgewachsen in Thüringen, lebt und arbeitet als Fotograf | |
zwischen Berlin und Chemnitz. | |
19 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.opferperspektive.de/verein/ | |
## AUTOREN | |
Corvin Drößler | |
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