# taz.de -- Hamas unter neuer Führung: Unbekannter Ort, unbekannte Zukunft | |
> Sinwar wird neuer Hamas-Polit-Chef. Er gilt als Hardliner, doch sein | |
> Aufenthaltsort in Gaza könnte ihn einschränken. Seine Wahl ist eine | |
> Botschaft an Israel. | |
Bild: Nach Tötung von Hanija ist Jahja Sinwar (Foto) neuer Hamas-Anführer | |
Beirut taz | Es ist eine Botschaft des Trotzes: die Ernennung Jahja Sinwars | |
zum neuen Chef der Hamas. Es ist ein „jetzt erst recht“, nachdem der | |
bisherige politische Führer Ismail Haniyeh letzte Woche gezielt in Teheran | |
getötet wurde. Im Vergleich zu Haniyeh, der als eher pragmatisch galt, ist | |
Sinwar eher der Hardliner innerhalb der Organisation. Er wurde von der | |
Hamas-Führung einstimmig gewählt. | |
„[1][Sie haben Haniyeh getötet], der flexibel und offen für Lösungen war, | |
nun müssen sie mit Sinwar und der militärischen Führung vorliebnehmen“, | |
fasst ein nicht namentlich genannter Hamas-Vertreter das gegenüber der | |
britischen BBC zusammen. | |
Es ist auch eine Botschaft, dass die Hamas im Gazastreifen fortan | |
unangefochten die zentrale Rolle spielt und nicht das Hamas-Büro im | |
Golfemirat Katar und nicht die ebenfalls in Westjordanland präsente Hamas. | |
Etwas, das in den letzten Monaten des Gazakrieges bereits immer deutlicher | |
wurde. Schon seit 2017 führt Sinwar unangefochten die Hamas im | |
Gazastreifen. | |
Und seiner Ernennung beinhaltet auch eine dritte Botschaft. Es ist der | |
Kontrapunkt zu dem vom israelischen Premier Benjamin Netwanjahu | |
deklarierten Kriegsziel, die Hamas im Gazastreifen zu zerstören. Die Hamas | |
setzt alle ihre Karten darauf, dass die israelische Armee dieses Ziel nicht | |
erreichen wird, egal wie sehr sie den Gazastreifen in Schutt und Asche | |
legt. Wenn die Hamas weiter existiert, hat Netanjahu den Krieg verloren. | |
Die Ernennung des im Gazastreifen untergetauchten Sinwar soll das | |
unterstreichen. Es ist eine Art Mittelfinger für Netanyahus Kriegsziel. | |
## Sinwar führt die Hamas von einem unbekannten Ort | |
Der Tod des Hamas-Verhandlungsführers Haniyeh bedeutet Unklarheit für den | |
weiteren Verlauf der Waffenstillstandsgespräche. Schon zuvor musste sich | |
Haniyeh in Katar stets das Ok von dem Hamas-Chef in Gaza Sinwar holen, wenn | |
es um Zugeständnisse bei den Verhandlungen um einen Waffenstillstand und | |
den Austausch von israelischen Geiseln und palästinensischen Gefangenen | |
ging. Sinwar hatte Veto-Power. Ein völliger Kurswechsel ist daher nicht zu | |
erwarten. | |
Der Hamas-Sprecher Osama Hamadan erklärte gegenüber dem [2][katarischen | |
Fernsender Al-Jazeera], dass Sinwar die Waffenstillstandsverhandlungen | |
weiterführen werde. Die große Frage ist nur wie. Sinwar führt die Hamas von | |
einem unbekannten Ort in eine unbekannte Zukunft. | |
Schwierig dürfte es rein logistisch werden. Sinwar befindet sich im | |
Untergrund in Gaza. Wie er von dort die gesamte Hamas, auch außerhalb des | |
Gazastreifens leiten soll, dürfte eine der größten Herausforderungen der | |
Organisation werden. Sinwar kann – im Gegensatz zu seinem Vorgänger Haniyeh | |
– auch nicht zu Verhandlungen reisen oder sich mit den Vermittlern im | |
Golfemirat Katar treffen. | |
Sinwar steht ganz oben auf der israelischen Fahndungsliste als | |
„Top-Terrorist“ und gilt als Kopf des Hamas-Angriff vom 7. Oktober. „Die | |
Ernennung des Erz-Terroristen Sinwar ist ein weiterer Grund, ihn schnell zu | |
eliminieren und diese ekelhafte Organisation von der Erde hinwegzufegen“, | |
erklärte Israel Außenminister Israel Katz. Das Führen von Verhandlungen ist | |
damit erheblich komplizierter geworden. | |
## Sinwar gründete den Hamas-Geheimdienst „Majd“ | |
Sinwar selbst ist kein Politiker. Er ist von einem obsessiven | |
Sicherheitsdenken getragen. Dem ordnet er seine Taktik und Strategie unter. | |
Gelernt hat er das auch in den 23 Jahren, die er in israelischen | |
Gefängnissen einsaß. Und einst als Gründer des berüchtigten „Majd“, des | |
internen Hamas-Geheimdienstes, den er 1985 gegründet hat. Der war damit | |
beauftragt, mutmaßliche oder echte palästinensische Kollaborateure mit der | |
israelischen Besatzung zu jagen und auszuschalten. | |
Der 61-Jährige ist in einem Flüchtlingslager in Khan Yunis geboren. Nachdem | |
er den internen Hamas-Sicherheitsapparat aufgebaut hatte und dabei half, | |
die Qassam-Brigaden, den militanten Flügel der Hamas aufzubauen, verbrachte | |
einen großen Teil seines Lebens in Israel hinter Gittern. 1988 wurde er zu | |
viermal lebenslänglicher Haft verurteilt. | |
In vielen Jahren im israelischen Gefängnis lernte er Hebräisch und machte | |
sich mit israelischer Politik und dem israelischen Sicherheitsapparat und | |
der Armee vertraut. 2011 wurde er zusammen mit 1.027 anderen | |
palästinensischen Gefangenen [3][gegen den israelischen Soldaten Gilad | |
Shalit ausgetauscht], der sich fünf Jahre in der Hamas-Gefangenschaft | |
befunden hatte. | |
## „Krieg für Monate und vielleicht sogar Jahre“ | |
Frühere Zellengenossen beschreiben ihn im Interview mit der arabischen | |
Tageszeitung As-Scharq Al-Ausat: Esmat Manour, der mit Sinwar einst im | |
Gefängnis in Ashkelon saß, schildert ihn als normalen, sehr ernsthaften | |
Menschen. Die Zeit im Gefängnis habe auf ihn abgefärbt, erzählt er der | |
Zeitung. Er akzeptiere kein Feilschen, Lösungen seien für ihn auch immer | |
ein Teil der Taktik. Vielleicht ein Hinweis darauf, wie sich zukünftige | |
Verhandlungen gestalten könnten. | |
[4][Abdel Dola, ein Mitglied der Fatah], hatte Sinwar 2006 im Gefängnis | |
getroffen. Er sei stets der Anführer im Gefängnis gewesen – und habe die | |
Entscheidungen getroffen, erinnert sich Dola. | |
Saleh Eddin Taleb, selbst Hamas-Mitglied, saß Jahre mit Sinwar im Gefängnis | |
und kam ebenfalls im Austausch mit dem Soldaten Gilat Shalit frei. Er habe | |
eine soziale Seite, aber es sei auch von einem Sicherheitsdenken besessen, | |
was ihn sehr harsch mache, beschreibt er ihn gegenüber Asch-Scharq | |
Al-Ausat. „Ich erwarte keine Flexibilität von ihm, nach dem hohen Preis, | |
den er gezahlt hat“, schlussfolgert Taleb. „Ich glaube, sein Plan für den | |
Krieg ist einer von Monaten und vielleicht sogar Jahren“. | |
7 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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