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# taz.de -- Tagebau in Sachsen: Eine Welt aus Resten und Ideen
> In vom Bergbau gehäuteten Landschaften Sachsens trifft unsere Autorin
> Menschen, die trinken und träumen. Und denkt an Gedichte von Wolfgang
> Hilbig.
Bild: Pödelwitz zwischen Utopie und Abbruchkante
Groitzsch /Pödelwitz taz | Manchmal sind es die biertrinkenden Männer auf
dem Marktplatz, die einer Fremden Zugang zu einer Stadt gewähren – schlicht
deswegen, weil sie die einzigen Menschen sind, die nicht abgeschirmt in
einem Auto sitzen. Es ist der 5. Juli, High Noon in Groitzsch, einer
Kleinstadt in der Leipziger Tieflandsbucht.
Am Abend spielt Deutschland im [1][Viertelfinale gegen Spanien] und der
Marktplatz böte genug Platz, um die Groitzscher*innen vor einer
Videoleinwand zusammenzubringen. „Ach“, sagen die Männer auf der Bank und
winken ab, bevor sie ihr Bier ansetzen. „Nüscht los.“
Ich schließe mein Rad an, setze mich zu ihnen und schaue über den Platz in
die schnurgerade Bahnhofsstraße hinein. Der zur Bahnhofstraße gehörende
Bahnhof liegt längst still. Bereits in den späten 1950er Jahren begann der
Braunkohlebergbau, die Bahntrassen im Leipziger Süden zu verschlingen. Jede
verlorene Schiene dimmte die Bedeutung des einstigen Bahnknotenpunktes, bis
1998 die Groitzscher Lichtsignale endgültig erloschen. Einer der Männer,
die sich auf dem Marktplatz treffen, ist Ritschardas. Seine Kumpels nennen
ihn den „Ausbilder“.
Ende der 90er war er am Aufbau eines Sägewerkes in Rumänien beteiligt und
auch jetzt noch ist der Tischlermeister viel unterwegs. Gerade kommt er aus
Albanien zurück. Er ist getrampt, weil ihm das Geld für den Rückflug
fehlte. Ritschardas kennt nicht nur fast alle Brücken dieser Welt, sondern
hat sich auch in fast jeder europäischen Hauptstadt schon einmal die Haare
schneiden lassen.
## Geschichte erzählen im 360-Grad-Panorama
Für die Kumpels hat der Ausbilder immer was zu tun. Projekte, wie sie
sagen: ein Billardzimmer herrichten, einen Grillplatz bauen oder ein Floß,
das Ritschardas einst von der Schnauder über die Weiße Elster, die Saale
und die Elbe bis zum Atlantik bringen sollte. „Alles gemacht aus Resten und
Ideen“, sagt er.
Zurück am Schreibtisch blättere ich in einem Gedichtband von Wolfgang
Hilbig. Der Autor aus dem nahegelegenen Meuselwitz schreibt über die
Tagebaulandschaften im Leipziger Süden, über „Das Meer in Sachsen“
rauch atmet die sonne und ich/ bin ein wahnsinniges kind man erlaube mir/
das violette distelfeld eines spätsommers zu verwüsten/ zu stampfen im bach
mit einer haut von kohlestaub
Ich denke an Ritschardas – das wilde Kind –, den es, wäre er mit seinem
Floß in Großstolpen rechts abgebogen, nach Pödelwitz verschlagen hätte –
ein Dorf, in dem auch gerade eine Welt aus Resten und Ideen entsteht und
von dessen Kirchturmspitze aus sich die Geschichte der [2][Leipziger
Tieflandsbucht] in einem 360-Grad-Panorama erzählen ließe: Da ist im Westen
ein an das Dorf grenzendes sattgelbes Weizenfeld, das das Herz von Landwirt
Jens Hausner höherschlagen lässt: „Hier ist kein Kohlebagger durchgekommen.
Das ist fruchtbarer Boden, wie er seit der letzten Eiszeit gewachsen ist.“
## Pödelwitz, ein Dorf, das bleibt
Auf dem Pödelwitzer Friedhof erinnert eine Grabsteingravur an die
bäuerliche Vergangenheit der Region vor der Kohle: Sie zeigt zwei
Ackergäule, einer wendet sich dem leeren Pflug zu. Der Bauer fehlt.
Schwenkt man von dem üppigen Weizenfeld im Uhrzeigersinn nach Nordost
rücken die beiden Kühltürme des Kraftwerks Lippendorf in den Blick. Weithin
sichtbar, Wegmarken der Region. Ihre Rauchsäulen zeigen den
Radfahrer*innen, ob sie mit oder gegen den Wind fahren. Weiter östlich
unweit der Kraftwerkstürme erstreckt sich der Tagebau Vereinigtes
Schleenhain. Es ist eine Landschaft wie gehäutet.
Dahinter in der Ferne lassen sich die Seen der rekultivierten
Bergbauflächen erkennen. „Ein rekultivierter Boden wird viele Generationen
brauchen, um wieder so fruchtbar zu sein, wie die Lehm-Löss-Böden hier
einst waren“, sagt Jens Hausner, der für die Grünen im Groitzscher Stadtrat
sitzt. In den vergangenen 100 Jahren musste im Leipziger Süden bis auf
größere Ortschaften und den wichtigsten Verkehrstrassen alles dem Bergbau
weichen. Zuletzt drohte auch Pödelwitz die Abbaggerung.
2012 unterzeichneten die Stadt Groitzsch und die Mitteldeutsche
Braunkohlegesellschaft AG (Mibrag) einen Umsiedlungsvertrag, aber bereits
zuvor hatte die Mibrag die Pödelwitzer*innen mit attraktiven Angeboten
motiviert, ihre Häuser und Höfe zu verkaufen. Diejenigen, die bleiben
wollten, gründeten die Initiative Pro Pödelwitz und wappneten sich
juristisch gegen die Umsiedlung.
Ihr Argument: Die Abbaggerung von Pödelwitz war im Braunkohleplan für
diesen Tagebau nie vorgesehen. Nachdem die Proteste der verbliebenen
Dorfbewohner*innen und zwei Klimacamps im Jahr 2018 und im Sommer vor
der Landtagswahl 2019 den öffentlichen Druck erhöht hatten, vereinbarten
die Koalitionspartner der neuen Landesregierung den Erhalt des Dorfes.
## Häuser, die den Eindruck vermitteln, sie seien bewohnt
Von ehemals 134 Einwohner*innen leben noch 35 Alteingesessene in der
Gemeinde. Zu ihnen gesellen sich Klimaaktivisten, die geblieben sind, weil
sie in [3][Pödelwitz] ihrer Utopie einer postkapitalistischen,
klimagerechten Welt einen Ort geben wollen. Auch sie sind wilde Kinder.
Wer nach Pödelwitz kommt, dem fallen die vielen Immobilien auf, die im
wuchernden Grün versinken während Gardinen an den Fenstern und Kunstblumen
auf den Fenstersimsen den Eindruck vermitteln, sie seien bewohnt. An den
Fassaden klebt das Schild, das die Häuser als Eigentum der [4][Mibrag]
ausweist. Eine Rückveräußerung, die Grundlage für eine Neuentwicklung des
Dorfes wäre, plant das Bergbauunternehmen derzeit nicht. In Pödelwitz,
einem Ort, in dem 80 Prozent der Immobilien leer stehen, finden
Zuzugswillige kein Obdach.
Ich frage die Klimaaktivistin Antonia Delbrück, wie sie sich die künftige
Dorfgemeinschaft vorstellt: „Wir wollen mit lokalen Betrieben wirtschaften,
regionale Landwirtschaft betreiben, Solarenergie erzeugen. Vielleicht
basiert unser Zusammenleben auch auf einem Austausch je nach Fähigkeiten
und Bedürfnissen: Ich gebe was ich kann und bekomme, was ich brauche.“
Erste Gewächse dieser Utopie sind ein Gemeinschaftsgarten, Obstbäume und
ein Haus, dessen Wände die Aktivist*innen Strohballen auf Strohballen
hochziehen – Füllung, Dämmung und Putzträger aus nachwachsendem Rohstoff.
Wilde Kinder. Oder sind nicht doch diejenigen die Wahnsinnigen, die
ungläubig auf Utopien wie diese schauen, die in den Bach stampfen mit einer
Haut aus Kohlenstaub und die Distelfelder verwüsten? Die blühen dieser Tage
bereits Mitte Juli, nicht erst im Spätsommer.
Ritschardas hat mit seinem Floß den Atlantik nicht erreicht. Nach ein paar
Kilometern, am Wehr in Audigast, wurde es schwer, sagt er. War seine Fahrt
dort zu Ende, frage ich. „Nein“, beteuert er. Ein Jobangebot aus Österreich
habe damals seine Pläne durchkreuzt. Spätere Weiterreise nicht
ausgeschlossen.
29 Jul 2024
## LINKS
[1] /Pfeifkonzert-gegen-Marc-Cucurella/!6019593
[2] https://www.bfn.de/landschaftssteckbriefe/acker-und-bergbaulandschaft-suedl…
[3] /Dorf-im-saechsischen-Braunkohlerevier/!5870024
[4] /Folgekosten-des-Braunkohleabbaus/!6022806
## AUTOREN
Tina Pruschmann
## TAGS
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