# taz.de -- Comic zu Verschwörungsideologien: Verwandlung zum triefenden Geist | |
> Von Verschwörungsideologie durchdrungen: Wie es sich anfühlt, den Vater | |
> nicht mehr erreichen zu können, erzählt Ika Sterling in „Der Große | |
> Reset“. | |
Bild: Vernetzt in einer Parallelwelt. Die Waldschrate sind mitten unter uns. Sz… | |
„Papa, mach einen Hund.“ Früher gab es eine liebevolle Beziehung zum Vater, | |
das stellt die Autorin der Graphic Novel zur Einleitung voran. Die ersten | |
Seiten des bunt aquarellierten Comics gehören der Erinnerung an einen | |
zugewandten Vater, der Tierformen aus Äpfeln schnitzt. In der Gegenwart der | |
Erzählung wird sich Studentin Ika dann für drei Tage zurück nach „Bad | |
Kaffheim“ begeben. Am Bahnhof wartet dort ihre Schwester. Und als sie so | |
zwischen den gezeichneten Pfälzer Weinbergen hindurch nach Hause kurven, | |
rollen ausgetrunkene Red-Bull-Dosen durchs Auto. | |
Nach „dem Alten“ gefragt, verliert Ikas Schwester, die weder über noch mit | |
dem Vater sprechen möchte, schnell die Geduld. Sie muss sich arrangieren. | |
Denn sie ist wegen Corona arbeitslos geworden und wohnt wieder bei den | |
Eltern. Ob aus dem Gerede des Vaters darüber, alles aufzugeben und | |
auszuwandern, jetzt tatsächlich Taten werden, muss Ika selbst herausfinden. | |
Es würde die Scheidung der Eltern bedeuten, Verkauf des Elternhauses, | |
endgültigen Verlust des Vaters sowieso – und was wird dann aus dem alten | |
Hund? | |
Bei der Ankunft wischt eine Nachbarin im Arbeitskittel gerade eine | |
Außenwand mit dem Putzlappen ab. [1][Dank solch aufmerksam beobachteter | |
Details] erscheint die dargestellte Welt hier nicht als beliebige Kulisse, | |
sie ist sehr real und bewohnt. Wer selbst vom Dorf kommt, erinnert sich: | |
Hier wissen alle alles übereinander. Man versteht die genervte Schwester | |
gleich viel besser. | |
Den Vater zeichnet Ika Sperling als ein durchscheinendes Wesen. Fast wirkt | |
er wie ein Geist, in der Form irgendwo zwischen Michelin- und | |
Lebkuchenmännchen, das halb mit Flüssigkeit gefüllt und halb leer ist. Er | |
lebt unter Kopfhörern im Wohnzimmer, zieht sich Videos und Würstchen rein, | |
abgekoppelt von den anderen Menschen im Haus, das immer wieder | |
doppelseitig, als sogenannter Splash, wie ein offenes Puppenhaus gezeigt | |
wird. Für jeden Charakter ein Raum. Alle sind für sich. | |
## Vom Wahn aufgewühlt und weggespült | |
Wie durch eine semipermeable Membran dringt die Flüssigkeit aus dem | |
Behältnis Vater heraus, tropft und gießt sich aus, wenn er über seine | |
Themen spricht. [2][Die aus Wasserfarben gemalte Welt] dieser Geschichte | |
droht ständig von seinem Wahn aufgewühlt und weggespült zu werden. | |
Anlass dazu kann ihm das Zusammentreffen mit Gleichgläubigen auf dem | |
örtlichen Weinfest sein. Aber auch der Vegetarismus seiner Tochter. Oder | |
die Aufforderung, in der Tierarztpraxis, eine Maske zu tragen. | |
Die Verwandlung zum triefenden Feuchtgeist ist passiert, bevor die Handlung | |
einsetzt. Und die Handlung wird enden, lange bevor der Vater auswandert, | |
sich – der großen Verschwörung zuvorkommend – selbst umvolkt. Beides wäre | |
spannend zu sehen gewesen. Das, wozu die Autorin ihre Leser*innen aber | |
mitnimmt, fast wie zur moralischen Unterstützung, ist zur Zeugenschaft | |
ihres Versuchs, den Vater noch mal zu erreichen. | |
Zu zwei Gesprächsversuchen mit ihm wird es während des Besuchs kommen. | |
Beide Male dehnt sich der Raum zwischen ihnen aus. Beide Male tropft und | |
fließt es. Beide Male ächzt Ika überfordert unter der Last, gesehen und | |
gehört werden zu wollen. | |
## Keine Offenbarung, wo es keine gibt | |
Weil sie schon zu wissen scheint, dass die inhaltliche Auseinandersetzung | |
nirgendwohin führt, versucht sie stattdessen, die persönliche Beziehung in | |
der Vordergrund zu stellen: „Aber ist dir egal, was dann aus uns wird?“ | |
„Wie kannst du denn alles wegwerfen, was du hier hast. Deinen Job. Dein | |
Haus. Deine Familie. Warum gibst du alles auf, wegen irgendwas was | |
irgendjemand irgendwo im Internet gesagt hat!“ | |
Wie er vor seiner Verwandlung aussah, welcher Vater ihr verloren gegangen | |
ist, zeigt Ika Sperling nicht als Bild. Vielleicht eine bewusste | |
Entscheidung, weil so viele Menschen inzwischen eine Person kennen, die | |
sich in so ein „Danach“ verwandelt hat – und auch ganz ähnlich klingt | |
(„Umvolkung, Diktatur, schwule Frösche“ – you name it). Aber es wird | |
deutlich, wenn er ihr erneut ein kleines Tier aus einem Apfel schnitzt, mit | |
ihr spricht wie früher, eine kleine Regression am Frühstückstisch, auf die | |
die Tochter eingeht. | |
Es ist fast eine verbale Verklemmung, die sich durchs Buch zieht. Trotz der | |
emotionalen Dringlichkeit handeln hier Personen, die sich wiederholen; | |
sagen, sich nicht zu verstehen, Plattitüden austauschen oder die Szene | |
gleich ganz verlassen. Das wirkt zwar realistisch, mehr Gegenrede hätte | |
aber doch gutgetan. | |
Da die Autorin auf Introspektion, Gedankenblasen oder eine Erzählstimme, | |
die Handlungen kontextualisiert, ganz verzichtet, wird zwar die je | |
verschiedene traurige Resignation der Angehörigen eines | |
Verschwörungsideologen spürbar, eine Offenbarung für die, die selbst | |
Angehörige verlieren, ist aber nicht enthalten. Vielleicht, weil es bisher | |
keine gibt. | |
In Internetforen wie [3][r/qanoncasualites] tauschen sich Menschen aus, die | |
unter der Verwandlung nahestehender Menschen leiden. Der kollektive Rat | |
dort lautet oft: Die Person ist nicht mehr da. Du kannst nichts tun. Nur | |
trauern. | |
29 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Graphic-Novel-ueber-Emmie-Arbel/!5977597 | |
[2] /Illustratorin-ueber-Argentinien/!5944287 | |
[3] http://www.reddit.com/r/QAnonCasualties | |
## AUTOREN | |
Donata Künßberg | |
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