| # taz.de -- Bewegungstermine in Berlin: Gegen die gewalttätige Idylle | |
| > Der gesellschaftlichen Faschisierung lässt sich auch durch Urlaub nicht | |
| > entfliehen. Eine Spurensuche, was stattdessen helfen könnte. | |
| Bild: Der Weg zur Ostsee bereitet Linken seit Generationen Probleme | |
| Über das Wochenende war ich an der Ostsee. Naja, fast. Ich war in | |
| Ueckermünde, ein verschlafenes Fischerörtchen auf der Südseite des | |
| Stettiner Haff. Das ist ein großes Küstengewässer, das teils in | |
| Deutschland, teils in Polen liegt, und von der Ostsee durch die Insel | |
| Usedom abgrenzt wird. Es gibt Dünen, Sandstrand und beim Blick auf das | |
| Wasser verschwindet Usedom teils hinter dem Horizont, sodass dieser | |
| meertypische Eindruck unendlicher Weite entsteht. | |
| Es ist ein friedlicher Ort, in dem Rentnerpaare sich im Sonnenuntergang | |
| noch schnell im Hafenbecken das Abendessen angeln. Doch immer wieder | |
| passiert es, dass der idyllische Schein gestört wird. Dann drängt sich die | |
| Realität brutal zurück ins Bild. Schon bei der Anreise mit der putzigen | |
| Bimmelbahn rauschen zwischen Schafweiden und Birkenwäldern Stromkästen an | |
| uns vorbei, die in den Farben des Deutschen Reichs bemalt sind. An einem | |
| Bahnhof winkt ein Neonazi seinem Kind, das gerade in den Zug gestiegen ist. | |
| Er sieht richtig freundlich aus, der Flip-Flop-tragende Glatzkopf in seinem | |
| braunen Reichsadler T-Shirt, fast liebevoll. | |
| Ein kurzer Blick auf das Handy verrät die typischen politischen | |
| Verhältnisse: Die AfD ist stärkste Kraft (32 Prozent), gefolgt von CDU und | |
| BSW, auch nur ansatzweise progressive Parteien sind völlig unbedeutend. Ich | |
| lasse mein „Antifa for Future“-T-Shirt lieber im Rucksack und dämme beim | |
| Gespräch die Stimme, damit die anderen Urlaubsgäste (einer in | |
| „Ostdeutschland“-Jogginghose, andere mit unzweideutigen Tattoos) nicht auf | |
| uns aufmerksam werden. Dass nicht-weiße Menschen eher woanders urlauben, | |
| wundert mich nicht. | |
| Es entwickelt sich ein grundsätzliches Misstrauen gegen meine Mitmenschen, | |
| denke ich mir und fühle mich plötzlich schrecklich einsam. Wie müssen sich | |
| erst Rassismusbetroffene tagtäglich fühlen? Und klar, Nazis gab es in | |
| Deutschland schon immer genug. Dass sie sich und ihr Nazisein aber so stolz | |
| präsentieren wie der Fascho vom Bahnsteig, dass niemand widerspricht – ob | |
| nun aus Zustimmung, Gleichgültigkeit oder Angst – das sind neue Realitäten. | |
| Und ich bin mir sicher, dass dies auch daran liegt, dass im Gegensatz zu | |
| den Baseballschläger-1990ern die schlagkräftige antifaschistische | |
| (Selbst-)hilfe merkwürdig abwesend ist. Nicht, weil es keine Linken geben | |
| würde, sondern weil sie sich alle von der Breite und Schnelligkeit der | |
| Faschisierung überrannt fühlen. | |
| ## Aktiv werden, sich vorbereiten | |
| Umso wichtiger ist es, dass diese Schockstarre endlich überwunden wird. | |
| Anlässe gibt es wie immer genügend: Am Donnerstag (20. 6.), dem | |
| Weltflüchtlingstag, findet in Potsdam eine antirassistische Demo [1][gegen | |
| die Innenministerkonferenz] statt, wo vermutlich schon die nächsten Pläne | |
| zur Abschaffung des Asylrechts ausgeheckt werden (17 Uhr, Alter Markt am | |
| Landtag). Am Samstag (22. 6.) gilt es, auf dem [2][CSD in Bernau] für eine | |
| gestärkte queere Gemeinschaft und ein buntes, diskriminierungsfreies Bernau | |
| einzutreten. | |
| Was ansonsten hilft? Klar, aktiv zu sein. Möglichkeiten dazu gibt es wie | |
| gehabt. Die Letzte Generation hält am Mittwoch (19. 6.) im Baiz einen | |
| Vortrag (Schönhauser Allee 26 A, 19 Uhr), wo es auch darum gehen wird, was | |
| jede:r tun kann. Am darauffolgenden Mittwoch (26. 6.) hat Ende Gelände ein | |
| [3][Offenes Plenum] (18:30 Uhr, Zwille, Straße des 17. Juni 135). | |
| Organisierung hilft auch gegen die Angst, sagen wir uns im Flüsterton, | |
| während wir im Strandcafé sitzen. Strukturen zu haben, Netzwerke, auf die | |
| man vertrauen kann. Wir merken: Eigentlich bereiten wir uns längst auf | |
| dunkle Zeiten vor. Und damit sind wir nicht alleine. Viele | |
| zivilgesellschaftlichen Initiativen, längst nicht nur die linksradikalen, | |
| spielen Planspiele durch, versuchen sich auf Situationen einzustellen, in | |
| denen politische Spielräume schwinden. | |
| Der Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit etwa diskutiert am Mittwoch (19. | |
| 6., 19 Uhr) im Museum des Kapitalismus (Köpenicker Str. 172) darüber, wie | |
| die [4][Zukunft der sozialen Arbeit im Lichte des gesamtgesellschaftlichen | |
| Rechtsrucks] aussehen kann. Zugegen sein wird die Professorin für eine | |
| diskriminierungssensible Theorie und Praxis Sozialer Arbeit an der Alice | |
| Salomon Hochschule, Barbara Schäuble. Anschließend soll gemeinsam über | |
| Erfahrungen aus der Praxis diskutiert werden. | |
| ## Die verzweifelte Suche nach Ursachen | |
| Einen Einblick in die Neonaziszene Neuköllns liefert derweil ein | |
| [5][Vortrag in der B-Lage], der sich um die Aktivitäten der Kleinstpartei | |
| III. Weg und die rechte Terrorserie des [6][Neukölln-Komplexes] dreht. Denn | |
| im Windschatten der rechten Landgewinne trauen sich in Neukölln die | |
| Neonazi-Kader immer mehr in die Offensive. Sie greifen linke Jugendzentren | |
| an, hängen ihre Propaganda auf und belästigen linke Kundgebungen. | |
| Diskutiert werden soll, wie eine effektive Gegenwehr gegen rechte Dominanz | |
| aussehen kann (Donnerstag, 20. 6., Mareschstr. 1, 19:30 Uhr). | |
| Im Strandcafé kommen wir derweil nicht auf die Ursache der Misere. Klar, da | |
| sind die ostdeutschen Erfahrungen mit den Plünderungen der Treuhand und der | |
| Verrat des Realsozialismus. Jeder Erfolg der Rechten beruht auf einem | |
| Versagen der Linken. Faschist:innen wälzen ihren Hass auf Minderheiten | |
| und Linke, weil sie im Kapitalismus ihren Gegner nicht erkennen können. | |
| Wirklich verstehen, wie sich die Verhältnisse so entwickeln konnten, tun | |
| wir trotzdem nicht. Einig sind wir uns nur: Auch die eigene Theorie und | |
| Praxis gehört auf den Prüfstand. | |
| ## Kongress der Aufständigen | |
| Eine Möglichkeit, sich einmal wirklich selbstkritisch zu überprüfen, bietet | |
| [7][der NON-Kongress (21.–23. Juni)]. Hier dürfte an Fundamentalkritik an | |
| der Linken kein Mangel herrschen. In einem Kommuniqué der | |
| Organisator:innen wird etwa gegen die sich „in ihrer Liberalität | |
| immer weiter desavouierenden“ Linken polemisiert, die nicht von | |
| „Klima-Appell-Politik“, „Absegnung autoritärer Corona-Maßnahmen“ und … | |
| „Nicht-Positionierung oder Unterstützung grüner Waffenlieferungenspolitik“ | |
| lassen will. | |
| Diese anarchistische Strömung sucht die Hoffnung deshalb jenseits der | |
| traditionellen Linken: In den „globalen Aufständen“, die sich „oftmals e… | |
| gegen sie [die Linke] durchsetzen müssen“. Diese Aufstände sind die „Non | |
| Bewegungen“: sponante Revolten ohne Organisation und politische | |
| Forderungen, die im Globalen Süden, aber auch in den Metropolen ausbrechen, | |
| etwa nach dem Tod des von der Polizei erschossenen Jugendlichen Nahel in | |
| Frankreich oder während der Berliner Silvesternacht 2022/23. | |
| Man mag eine derartige Riotzelebrierung als politisch untauglich, naiv, gar | |
| gewaltverherrlichend verwerfen. Oder man geht zum NON-Kongress und lernt | |
| vielleicht doch noch etwas über darüber, warum die radikale Linke von so | |
| wenigen Menschen als echte Alternative wahrgenommen wird. Der Kongress | |
| findet in Berlin an einem Ort statt, der nach Anmeldung unter | |
| [8][[email protected]] mitgeteilt wird. Die Organisator:innen | |
| schreiben, es würden keine „bürgerliche Informationen wie Namen“ benötig… | |
| Im Strandcafé bezahlen wir. Auf der Rückreise ist der Regio überfüllt, | |
| alles voller Hippies und Berliner Partypublikum, irgendwo war wohl ein | |
| Festival. Es geht zurück in die Großstadtbubble. Die Gewissheit, dass auch | |
| diese Idylle eine Illusion ist, bleibt. | |
| 18 Jun 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.imk-protest.de/#termine | |
| [2] https://stressfaktor.squat.net/node/306140 | |
| [3] https://stressfaktor.squat.net/node/303801 | |
| [4] https://stressfaktor.squat.net/node/306193 | |
| [5] https://stressfaktor.squat.net/node/306205 | |
| [6] /Rechter-Terror-in-Berlin-Neukoelln/!t5612550 | |
| [7] https://nonkongress.noblogs.org/ | |
| [8] /[email protected] | |
| ## AUTOREN | |
| Timm Kühn | |
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