# taz.de -- Gaza Talks im Berliner Ensemble: Über den Schmerz reden | |
> Mit ihren „Gaza Talks“ will Alena Jabarine die Zäsur des 7. Oktober | |
> reflektieren. Noy Katsman sprach über seinen von der Hamas ermordeten | |
> Bruder. | |
Bild: Ein sehr persönliches Gespräch: Noy Katsman (l.) und Alena Jabarine | |
BERLIN taz | Am 10. Oktober 2023 [1][sprach Noy Katsman mit dem Sender | |
CNN]. Der israelische Student erzählte dort von seinem älteren Bruder | |
Hayim, der drei Tage zuvor beim Angriff der Hamas ermordet wurde – der | |
32-Jährige war Wissenschaftler und Friedensaktivist und im Kibbuz Cholit | |
nahe der Grenze zum Gazastreifen zu Hause gewesen. | |
Zum Schluss dieses Interviews sagte Noy Katsman noch ein paar Sätze, die | |
ihm wichtig waren. Er wolle nicht, dass der Tod seines Bruders benutzt | |
werde, um unschuldige Menschen zu töten – sein Bruder hätte das auch nicht | |
gewollt. Leider mache seine Regierung genau das. Er schloss mit einem | |
Appell: „Hört auf, unschuldige Menschen zu töten. Das wird uns keine | |
Sicherheit bringen.“ Kaum war das Interview ausgestrahlt, gingen seine | |
Worte im Netz viral. | |
Sieben Monate später sitzt Noy Katsman in einem kleinen Nebenraum des | |
Berliner Ensembles und spricht mit der deutsch-palästinensischen | |
Moderatorin Alena Jabarine über jene Tage und den Krieg in Gaza, der bis | |
heute andauert. Die Hamburgerin ist die letzte Journalistin | |
palästinensischer Herkunft, die im öffentlich-rechtlichen Rundfunk | |
verblieben ist – alle anderen wurden gecancelt, nachdem sie zum Ziel | |
öffentlicher Angriffe geworden waren. Im Brecht-Theater am Schiffbauerdamm | |
moderiert sie nun eine kleine Reihe, die sich „Gaza Talks“ nennt. | |
Darin will sie einen Raum öffnen für Gespräche über jenen Tag, der in ihren | |
Augen eine „Zäsur“ ist, und über seine Folgen. Denn der 7. Oktober habe | |
vieles verändert – er habe „Angst geschürt, zu Kündigungen von | |
Freundschaften und Arbeitsverhältnissen geführt“. Viele Menschen fragten | |
sich, „ob sie überhaupt noch eine Zukunft in diesem Land haben“, heißt es | |
in der Ankündigung. | |
Zur Premiere sitzt Noy Katsman auf der Bühne des kleinen Saals, rund 60 | |
Menschen hören ihm aufmerksam zu; die Veranstaltung war lange zuvor | |
ausverkauft. Der 27-Jährige studiert Soziologie, Anthropologie und | |
Gender-Studies in Be’er Scheva, an der Ben Gurion-Universität im Negev, | |
doch seit September lebt er als Austauschstudent in Leipzig. Er erzählt | |
noch einmal, wie er dort vom Tod seines Bruders erfuhr. | |
Am 7. Oktober sei er morgens aufgewacht, habe die Nachrichten gesehen und | |
seinen Bruder angerufen. Der habe ihm gesagt, er wisse auch nicht, was los | |
sei, ihn aber beruhigt: Die Alarmsirenen seien ja an. Mittags habe er den | |
Bruder nicht mehr erreicht, aber sich nichts dabei gedacht – vermutlich sei | |
das Funknetz überlastet gewesen. Weil Shabbat war, konnte er seine | |
religiösen Eltern erst abends erreichen, aber niemand wusste, was los war. | |
## „Endlich sagen, was ich denke“ | |
Erst am nächsten Morgen riefen die Eltern wieder an, um ihm zu sagen, dass | |
sein Bruder gefunden worden sei: Er sei tot. „Dann bin ich nach Israel | |
geflogen“, sagt Noy Katsman. Doch es habe einige Tage gedauert, bis es eine | |
Beerdigung gab: Es herrschte Chaos im Land. Als CNN auf ihn zukam, dachte | |
er, „endlich kann ich sagen, was ich denke“. Denn in Israel habe er diese | |
Möglichkeit so nicht. | |
„Wie fühlt sich dein Schmerz heute an?“, war Jabarines erste Frage an ihn | |
gewesen. Für sie selbst und viele andere sei das Leben nicht mehr wie vor | |
dem 7. Oktober, hat die 38-jährige Journalistin zuvor gesagt. Sie schlafe | |
zu grausamen Bildern aus Gaza ein, und sie begleiteten sie durch den Tag. | |
[2][„Der Tod ist für viele von uns ein Grundrauschen geworden“], sagt sie. | |
Und, hatte sie zuvor klar gestellt: Man repräsentiere hier niemanden und | |
spreche nur für sich selbst. | |
So wird es ein sehr persönliches Gespräch, das zugleich sehr viel über die | |
gegenwärtige Lage in Israel und Deutschland aussagt. Denn Katsman erzählt, | |
wie es ist, [3][als linker Aktivist in Israel] aufzuwachsen, wo man schnell | |
als Verräter angesehen wird – selbst wenn man eher moderate Standpunkte | |
vertritt. Und er beklagt die große Kluft zwischen der Nachrichtenrealität | |
und dem, was in Gaza passiere. „Jede Schlagzeile macht mich traurig“, sagt | |
er, und er frage sich: „Verliert meine Gesellschaft den Kontakt zur | |
Realität?“ | |
Katsman erzählt von seiner Familiengeschichte und seiner Entwicklung zum | |
Aktivisten. Seine Großmutter stammte aus Dortmund, seine Eltern hatten in | |
den USA gelebt und waren 1990 nach Israel gezogen, sie seien religiös und | |
rechtsnationalistisch. So wuchsen er und seine sechs Geschwister in Petach | |
Tikwa auf, einem Nachbarort von Tel Aviv und „die langweiligste Stadt in | |
Israel“, so Noy Katsman. Einige Cousins väterlicherseits leben in | |
Siedlungen im Westjordanland, diese habe man ab und zu besucht. | |
Seinen Militärdienst leistete zuerst bei der Marine, die vor der Küste von | |
Gaza dafür sorgt, dass kein Fischer mit seinem Boot die Seegrenze | |
überschreitet. Die Fischer seien nur Punkte auf einem Bildschirm gewesen. | |
Einmal gab es einen Zwischenfall, bei dem sein Patrouillenschiff ein | |
Fischerboot überfahren habe, der Vorfall sei unter den Teppich gekehrt | |
worden. Noy Katsman berichtete der [4][Menschenrechtsorganisation „Breaking | |
the Silence“] davon, die solche Fälle dokumentiert. | |
Nach dem Wehrdienst ging er zum Studium nach Be’er Scheva. Bei einem | |
Workshop in Bethlehem habe er erstmals Palästinenser kennengelernt und | |
Freundschaften geschlossen. Bis dahin seien sie wie ein fernes Phantom | |
gewesen, das Leben in Israel sei sehr segregiert. Katsmann begann, sich in | |
der [5][jüdisch-arabischen Bewegung „Standing together“] zu engagieren. Er | |
sei damit auf dem Campus ein Außenseiter gewesen und manchmal von rechten | |
Studenten schikaniert worden. Er provoziere, warf man ihm vor. | |
## Eine isolierte Linke | |
Deshalb habe er sich gefreut, ins Ausland gehen zu können. In Deutschland | |
sei die linke Szene viel größer, hat er festgestellt, aber manches sei | |
anders. Viele hätten ein verklärtes Bild von Israel, das sei Teil ihrer | |
Identität. „Aber immerhin sind sie bereit, zuzuhören“, sagt Katsmann. Das | |
sei in Israel anders: die Linke sei dort völlig isoliert. Viele in | |
Deutschland verstünden nicht, wie eng der antipalästinensische Rassismus in | |
Israel mit antimuslimischen Vorstellungen verbunden sei. | |
Erstaunlich eigentlich, dass Noy Katsman noch nie bei Markus Lanz oder | |
einer anderen deutschen Talkshow zu Gast war: Er hat viel zu erzählen und | |
bringt eine Perspektive ein, die hierzulande fehlt. In Israel demonstrieren | |
manche Angehörige von Geiseln seit Monaten für einen Waffenstillstand und | |
Verhandlungen, doch auch ihre Stimmen werden in Deutschland wenig gehört. | |
Warum das so ist, darüber will Alena Jabarine in der nächsten Folge der | |
„Gaza-Talks“ sprechen. Ende Juni soll es um das Thema „Medien“ gehen. A… | |
diese Veranstaltung ist schon ausverkauft. | |
17 May 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://edition.cnn.com/videos/world/2023/10/10/tl-noy-katsman-jake-tapper-… | |
[2] /Tote-in-Gaza/!6007459 | |
[3] /Gedenktag-in-Israel/!6010702 | |
[4] /Israelische-Staatsanwaltschaft-gegen-NGO/!5302775 | |
[5] /Palaestinenserin-und-Jude-ueber-den-Krieg/!5976681 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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