# taz.de -- HDP-Politiker in der Türkei verurteilt: 42 Jahre Haft für Demirta… | |
> Ein türkisches Gericht verurteilt linke prokurdische PolitikerInnen zu | |
> extremen Haftstrafen.Demirtaş und Yüksekdağ führten lange die HDP. | |
Bild: Unterstützer von Selahattin Demirtaş mit einem Bild von ihm bei einer K… | |
ISTANBUL taz | In einem über mehrere Jahre andauernden politischen Prozess | |
gegen die früheren Führungspersonen der kurdisch-linken Partei HDP sind am | |
Donnerstagabend die beiden damaligen Co-ParteiführerInnen Selahattin | |
Demirtaş und Figen Yüksekdağ zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. | |
Einer der wichtigsten kurdischen Politiker der letzten Jahrzehnte, der | |
54-jährige Selahattin Demirtaş, soll für 42 Jahre und 6 Monate im Gefängnis | |
verschwinden. Seine damalige Co-Parteiführerin Figen Yüksekdağ erhielt 30 | |
Jahre und 3 Monate Haft. | |
Der Prozess bezog sich auf Ereignisse, die zehn Jahre zurückliegen. Damals | |
beherrschte die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) weite Teile | |
Syriens und belagerte in Nordsyrien mit Kobani dort eine der größten | |
kurdischen Städte. | |
Kobani liegt direkt an der Grenze zur Türkei. Von dort aus konnte man mit | |
bloßen Augen sehen, wie der IS versuchte, in die Stadt einzudringen. | |
Verteidigt wurde Kobani von einer kurdischen Miliz, die nach Auffassung der | |
türkischen Regierung von der türkisch-skurdischen Guerilla PKK abstammt, | |
die die türkische Armee seit Jahrzehnten bekämpft. | |
Während die Kurden in der Türkei ihren Verwandten in Kobani zur Hilfe | |
kommen wollten, ließ Präsident Recep Tayyip Erdoğan Panzer an der Grenze | |
auffahren, aber nicht um die Kurden in ihrem Abwehrkampf gegen die IS zu | |
unterstützen, sondern um zu verhindern, dass die kobanischen Kurden Waffen | |
und Lebensmittel von ihren Verbündeten aus der Türkei bekamen. | |
## HDP-Führung als Sündenböcke Erdoğans | |
Stattdessen, so die Vermutung der meisten Kurden, unterstützte Erdoğan die | |
Islamisten vom IS, eben um zu verhindern, dass die PKK in Kobani einen | |
großen Sieg erringen konnte. Gegen diese Politik der türkischen Regierung | |
gab es massenhafte Proteste in verschiedenen, überwiegend kurdisch | |
bewohnten Städten in der Grenzregion zu Syrien und dem Irak. | |
Das Zentrum der Proteste war die Millionenstadt Diyarbakır, Hauptstützpunkt | |
der kurdischen Opposition. Bei diesen Protesten kam es nach offiziellen | |
Angaben zu 37 Toten. Öffentlich machte Erdoğan dafür Selahattin Demirtaş | |
und die ganze HDP-Führung verantwortlich. Demirtaş und Yüksekdağ waren | |
beide Abgeordnete im Parlament. Es dauerte, bis die Anklage | |
zusammengezimmert war und anschließend das Parlament über die Aufhebung der | |
Immunität von Demirtaş, Yüksekdağ und anderen kurdischen Abgeordneten | |
abgestimmt hatte. | |
Unterdessen fand im Sommer 2016 der Putschversuch gegen Erdoğan statt, mit | |
dem die Kurden zwar nichts zu tun hatten, sie aber dennoch während des | |
anschließenden Ausnahmezustandes verhaftet wurden. Seit dem Herbst 2016 | |
saßen deshalb Demirtaş, Yügsekdağ und andere kurdische PolitikerInnen in | |
Untersuchungshaft. | |
Der charismatische HDP-Führer Demirtaş, der Erdoğan bei Wahlen mehrmals mit | |
einigem Erfolg herausgefordert hatte, war der Hauptangeklagte in dem | |
[1][sogenannten Kobani-Prozess]. Die Staatsanwaltschaft klagte ihn anfangs | |
in mehr als 40 Punkten an und forderte insgesamt mehr als 100 Jahre Haft | |
für ihn. | |
## Europäischer Menschenrechtsgerichtshof wird ignoriert | |
Weil die U-Haft für Demirtaş sich über Jahre hinzog, klagten seine Anwälte | |
vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, der die Freilassung von | |
Demirtaş forderte. Erdoğan ignorierte das. Noch im | |
Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr 2023 sagte Erdoğan, solange er an der | |
Regierung sei, werde Demirtaş nicht aus dem Gefängnis kommen. | |
Nun wurde Demirtaş zu 42 Jahren und 6 Monate Haft verurteilt. Die damalige | |
Co-Parteichefin Figen Yüksekdağ zu 30 Jahren und 3 Monaten. Von den | |
insgesamt 108 Angeklagten wurden 12 freigesprochen und 24 Personen zu | |
Freiheitsstrafen zwischen 9 und 42 Jahren verurteilt. 72 der Angeklagten | |
sind auf der Flucht, die meisten wohl im Ausland. | |
Die Partei HDP hat sich wegen eines drohenden Verbotsverfahrens | |
mittlerweile in DEM umbenannt und als kurdische Partei bei den | |
Kommunalwahlen am 31. März dieses Jahres relativ erfolgreich teilgenommen. | |
Nach der Verhaftung von Demirtaş ging der Erfolg der HDP allerdings stark | |
zurück. | |
Demirtaş wollte seine Partei aus der Ethno-Ecke herausführen und zu einer | |
gesamttürkischen linken Partei machen. Viele nichtkurdische türkische Linke | |
unterstützten ihn deshalb. Ohne Demirtaş brach diese Politik aber mehr oder | |
weniger zusammen. | |
## Kurswechsel von Demirtaş' Nachfolgern | |
Zuerst die HDP und jetzt die DEM verstehen sich wieder als rein kurdische | |
Partei. Bei den Kommunalwahlen Ende März hat die DEM deshalb in den | |
Metropolen in der Westtürkei nur noch wenige Stimmen geholt und sich | |
stattdessen ganz auf die Städte und Gemeinden im kurdisch besiedelten | |
Südosten des Landes konzentriert. | |
Die aktuelle Parteiführung der DEM sagte am Donnerstagabend, man werde das | |
„faschistische“ Urteil nicht akzeptieren. Die Verteidigung kündigte an, | |
gegen die Urteile in Berufung zu gehen. Viele Menschen in der Türkei, | |
Kurden wie Türken, hoffen nach wie vor auf eine Rückkehr von Demirtaş in | |
die Politik. | |
17 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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