# taz.de -- Waschbär und Mensch in Berlin: Sind so kleine Pfoten | |
> Ein Verein will den Ruf des Waschbären verbessern und plant ein Projekt | |
> zur Geburtenkontrolle. Bei der Genehmigung hapert es – warum, ist unklar | |
Bild: Meist nachtaktiv: Procyon lotor, der Waschbär | |
BERLIN taz | Der Procyon lotor ist ein zutrauliches Tier. Hält man ihm | |
einen Finger zum Beschnuppern hin, greift er ihn zielstrebig mit seinen | |
weichen Pfoten und dreht ihn interessiert hin und her. Allzu lange hält er | |
sich damit aber nicht auf, er ist von seinem Besucher weit weniger | |
fasziniert als dieser von ihm. Der Mensch dagegen staunt. Immerhin hat er | |
noch nie einem lebenden Waschbär die Hand gegeben. | |
Im Besprechungsraum des [1][Vereins Hauptsache Waschbär] in einem Bungalow | |
unweit der Krummen Lanke in Zehlendorf ist ein ganzes Grüppchen der Tiere | |
damit beschäftigt, die Ikea-Regale hoch- und runterzuklettern oder | |
Obststücke – ganz namenstypisch – in eine Wasserschale zu tauchen, um sie | |
dann zu fressen. Einer der Kleinbären mit dem braun-grauen Pelz und dem | |
schwarzen Fleck im Gesicht, der wie eine Maske wirkt, rennt ein paar Runden | |
in einer großen hölzernen Trommel, einer Art überdimensionalem Hamsterrad. | |
Für [2][Mathilde Laininger, die Vorsitzende von Hauptsache Waschbär,] und | |
die anderen Mitglieder, die an diesem Tag gekommen sind, ist das völlig | |
normal. Schließlich betreibt der Verein hier eine „Begegnungsstätte“ für | |
Waschbären und Menschen, in der etliche Tiere leben und an Besuchergruppen | |
gewöhnt sind. Ziel ist es, Vorurteile gegenüber dem Waschbär abzubauen. | |
Denn obwohl die wenigsten BerlinerInnen ihm richtig nah gekommen sind, | |
haben die meisten eine Meinung über ihn. In der Regel ist es keine allzu | |
gute. | |
Dass die Tiere ganz knuffig sind, wird kaum jemand bestreiten, sonst aber | |
fallen die Urteile weniger positiv aus: Der Waschbär vermehrt sich rasant, | |
wildert bedrohte Tierarten, verwüstet Gärten und Dachböden, überträgt | |
Krankheiten – und er ist nicht von hier. „Manchmal kommen Kindergruppen in | |
die Begegnungsstätte, da sagen die Knirpse auch gleich: Die gehören nicht | |
hierher!“, berichtet Laininger, die seit 30 Jahren eine Kleintierpraxis | |
betreibt und sich mittlerweile auf Waschbären spezialisiert hat. | |
## Nicht von hier | |
Dass Procyon lotor [3][„nicht von hier“] ist, trifft zu, zumindest in | |
erdgeschichtlichen Zeiträumen gemessen: Erst im 20. Jahrhundert setzte die | |
aus Nordamerika stammende Kleinbärenart ihre Pfoten auf europäischen Boden. | |
In Deutschland wurde der Allesfresser, der bis zu neun Kilo schwer werden | |
kann, wegen seines begehrten Pelzes gezüchtet, etliche Exemplare entkamen | |
aus den Farmen. In den 1930er Jahren siedelte man den Waschbär sogar | |
gezielt in den nordhessischen Wäldern aus. Seitdem hat sich die Art | |
prächtig vermehrt, besonders große Populationen gibt es weiterhin in Hessen | |
– und im Raum Berlin-Brandenburg. | |
Als „invasiv“ gelten Pflanzen oder Tiere, die wie der Waschbär vom Menschen | |
in Regionen gebracht werden, in denen sie nie vorkamen und sich aufgrund | |
günstiger Bedingungen schnell ausbreiten – etwa weil natürliche Fressfeinde | |
fehlen. Das kann massive Schäden an einem Ökosystem nach sich ziehen. Im | |
Fall des Waschbären, der seit 2016 auf der EU-Liste der „invasiven | |
gebietsfremden Arten von unionsweiter Bedeutung“ geführt wird, ist dabei | |
eine Ausrottung längst nicht mehr möglich. Laininger und ihre | |
MitstreiterInnen von Hauptsache Waschbär, aber auch die Biologin Carolin | |
Weh von der „Waschbär-Vor-Ort-Beratung“, vertreten ohnehin die Ansicht, | |
dass die mit den Tieren verbundenen Risiken überschaubar sind und sich in | |
den Griff kriegen lassen. | |
Krankheiten? Überträgt der Waschbär praktisch nie auf den Menschen, | |
argumentiert der Verein. Dezimierung anderer Arten? Dass der Waschbär | |
Amphibienbestände bedrohe, sei ein Irrglaube. Das habe auch eine vom Senat | |
beauftragte Studie vor wenigen Jahren gezeigt. Der Waschbär räumt die | |
liebevoll gepflegten Obstbäume im Kleingarten ab? Dagegen könne man etwas | |
tun, sagt Laininger, „oft mit ganz einfachen Maßnahmen wie einer glatten | |
Plexiglasmanschette um den Baumstamm, an der rutschen die Waschbären ab“. | |
Fallobst zu entfernen sei eine weitere effektive Maßnahme, um einen Garten | |
für den Waschbären weniger attraktiv zu machen. | |
Trotzdem: Dass eine übergroße Zahl an Waschbären Probleme macht, sieht man | |
auch bei Lainingers Verein – und dass die Population noch lange | |
weiterwachsen wird, wenn man nichts dagegen unternimmt. Schließlich gilt | |
die besiedelte Fläche Berlins, in deren Gärten und Grünflächen die meisten | |
Konflikte auftreten, als „befriedeter Bezirk“, in dem nur in Ausnahmefällen | |
gejagt werden darf. | |
Überdies bringt die Jagd auf den Waschbären wenig: Die Art weist eine | |
sogenannte kompensatorische Fertilität auf, vermehrt sich also stärker, | |
wenn der Bestand dezimiert wird, [4][ob durch Bejagung oder Krankheit]. | |
Eine Erklärung dieses Mechanismus lautet, dass die Tiere sich über ihren | |
Geruchssinn an den gemeinsam genutzten „Latrinen“ informieren, wie viele | |
Artgenossen in der Umgebung leben. Werden es weniger, beteiligen sich die | |
Weibchen früher als sonst an der Reproduktion, auch die Würfe werden | |
größer. | |
## Gewaltsamer Tod | |
Dabei sterben durchaus nicht wenige Waschbären einen gewaltsamen Tod, und | |
das nicht nur durch Überfahren. Immer dann, wenn jemand ein krankes oder | |
verletztes Tier oder einen – vermeintlich verlassenen – Welpen findet, | |
kommt es jedenfalls zu einer paradoxen Situation: Einerseits ist es | |
verboten, invasive Tierarten (wieder) in die freie Wildbahn zu entlassen, | |
andererseits haben die wenigsten ein Interesse daran, künftig einen | |
Waschbären zu halten – was tatsächlich erlaubt wäre. | |
Viele wählen dann die Nummer des Nabu-Wildtiertelefons. Aber: „Unsere | |
Erfahrung mit dem Nabu-Telefon ist leider, dass die Anrufer gesagt | |
bekommen: Überlassen Sie das Tier sich selbst oder rufen Sie einen Jäger“, | |
so Mathilde Laininger. „Der Stadtjäger wird den Waschbären aber töten – | |
oder er bittet die Polizei um Amtshilfe, und die erledigt das dann.“ | |
Diese ungute Praxis, über die niemand wirklich offen spricht, will der | |
Verein beenden. Er hat ein Pilotprojekt zum „nicht-letalen | |
Populationsmanagement“ entwickelt, sprich: zur mittelfristigen Reduzierung | |
des Waschbäraufkommens, ohne Tiere zu töten. Das Mittel: Unfruchtbarmachung | |
durch Kastration der Weibchen und Sterilisation der Männchen. Der Plan: Die | |
Vereinsmitglieder von Hauptsache Waschbär fangen die Tiere in eigens | |
entwickelten Fallen, operieren sie in einem zur Mini-Praxis umgebauten | |
Transporter und lassen sie wieder laufen. | |
## Eine Stunde in der Nacht | |
Hauptsache Waschbär musste viel Überzeugungsarbeit leisten: „Der Senat hat | |
unseren Plan als eine Entnahme der Tiere interpretiert“, so Laininger. | |
Damit wäre ein Wiederaussetzen vermeintlich unzulässig. „Es ist aber keine | |
Entnahme“, argumentiert die Vereinschefin. „Wir machen das in unserem | |
Kastrationsmobil in der Nacht, mit Nachbereitung dauert die OP maximal eine | |
Stunde, dann werden die Bären wieder freigelassen.“ Sie verweist auch auf | |
ein neues Gutachten der Deutschen Juristischen Gesellschaft für | |
Tierschutzrecht. Die ist überzeugt, dass das Wiederaussetzen nach einer | |
Behandlung mit EU-Recht vereinbar ist. | |
Eine Vorstudie, bei der die Fallen getestet und Bestände ermittelt wurden, | |
konnte im vergangenen Jahr stattfinden. Die Hauptstudie, bei der in einem | |
Gebiet die Tiere behandelt, in einem zweiten, vergleichbaren Gebiet nur | |
registriert und untersucht werden sollen, soll in diesem Sommer starten und | |
fünf Jahre dauern. Ob es aber im August wirklich losgehen kann, ist zurzeit | |
noch ungewiss. | |
„Wir haben riesige Hürden genommen“, sagt Laininger. „Ich musste einen | |
Jagdschein und einen Fallenschein machen. Wir mussten nachweisen, dass wir | |
Gartenbesitzer gefunden haben, auf deren Grundstücken wir die Fallen | |
aufstellen können.“ Immer neue Auflagen habe es aus der Umweltverwaltung | |
und den Unterbehörden gegeben. „Wir haben sie alle erfüllt.“ | |
Seit einiger Zeit hängt es nun noch an einer Ausnahmegenehmigung zur | |
Aufstellung von Fallen, die die Berliner Jagdbehörde erteilen muss. „Warum | |
sich das so lange zieht, wüssten wir auch gern“, sagt Laininger. Komme die | |
Genehmigung zu spät, lasse sich der Zeitplan nicht mehr einhalten. Im | |
Herbst bereiten sich die Tiere auf die Winterruhe vor, dann lässt ihre | |
Aktivität nach. | |
„Ich möchte dem Ergebnis nicht vorgreifen, vertraue aber auf meine Behörde, | |
dass die das angemessen prüft“, sagte Umweltstaatssekretärin Britta | |
Behrendt (CDU) vergangenen Donnerstag bei einer Anhörung im Umweltausschuss | |
des Abgeordnetenhauses, in der es um das geplante Berliner | |
„Wildtierkompetenzzentrum“ ging, an dem sich auch Hauptsache Waschbär | |
beteiligen will. Mathilde Laininger ist etwas ratlos. „Ich habe manchmal | |
den Eindruck, dieses Projekt ist nicht erwünscht“, sagt sie. „Die wollen | |
vielleicht einfach nicht noch mehr Argumente gegen die Jagd haben, und wenn | |
unser Projekt Erfolg hat, ist das eben eine klare Alternative zur | |
Bejagung.“ | |
19 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://hauptsache-waschbaer.de/ | |
[2] /Der-Hausbesuch/!5883123 | |
[3] /Fremde-Tiere-und-Pflanzen/!5949747 | |
[4] /Waschbaeren-Plage/!5874823 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
## TAGS | |
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