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# taz.de -- 15 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention: Hermann Hesse gegen die W…
> Der Blick auf Menschen mit Behinderung ist immer noch geprägt von einer
> falschen Barmherzigkeit, die dazu dient, die eigene Schwäche
> auszublenden.
Fünfzehn Jahre war ich alt, als ich das erste Mal in meinem Leben ein Buch
gegen die Wand warf. Ein Skandal, denn Bücher sind Lebensmittel für Familie
Streisand.
Ein versteckter Koffer voller Erstausgaben bewahrte das „arisierte“
Antiquariat meines Urgroßvaters in der Nazizeit vor dem Ruin, meine Mutter
war Literaturwissenschaftlerin, ihr Vater Historiker. Wände waren dazu da,
Bücherregale dranzustellen, nicht um deren Inhalt dagegen zu werfen.
„Was soll ich’n jetz lesen?“, fragte ich meine Mutter in den Neunzigern
alle paar Wochen. Sie sah mich an, überlegte kurz und ging mit mir zu einem
der Regale in unserer Wohnung, aus dem sie einen Band zog und sagte: „Hier,
probier ma ditt, ick glaube, dafür biste jetz alt genug.“
Auf diese Weise hatte ich mit fünfzehn bereits Thomas Mann, Fontane,
Fallada, Plenzdorf usw. gelesen.
Als junges Mädchen in den klassischen Literaturkanon einzusteigen bedeutet,
um die Ecke denken zu lernen, also das auszubilden, was Sigrid Weigel den
„schielenden Blick“ nannte, sich selbst stets auch von außen – aus der
Perspektive der die Norm bestimmenden Subjekte – zu betrachten. Es
bedeutet, mit dem Gefühl aufzuwachsen, nicht mitgedacht worden zu sein und
sich eine Rolle anzueignen, die nicht für einen bestimmt ist. Die des
Helden. Durch Lesen lernte ich: Die Macht lag bei den Männern, eine Frau
konnte Macht nur erreichen, indem sie einen Mann manipulierte und an sich
band.
Frauenfiguren existierten hier vorrangig durch ihren Nutzen für den
männlichen Protagonisten – in genau zwei Varianten: Sexualobjekt oder
liebende Mutter, was mir die Notwendigkeit verdeutlichte, Ersteres werden
zu müssen, um Letzteres werden zu können, also sichtbar zu werden, um
Arbeit zu bekommen. Denn Mutterschaft war die einzige Arbeit, die Frauen
besser konnten als Männer. Weil ihre Körper dafür gemacht waren. Doch wie
wurde man ein Sexualobjekt, wenn man keines der dafür vorgeschriebenen
Attribute besaß?
## Callboy in Mönchskutte
Das Buch, das damals gegen die Wand flog, war Hermann Hesses „Narziss und
Goldmund“, erschienen 1930, der Schulmädchenreport unter den Jugendbüchern,
in welchem sich der Protagonist Goldmund als eine Art Callboy in
Mönchskutte durch das Spätmittelalter vögelt. Jede Frau begehrt ihn und er
beglückt sie alle.
Atemlos hatte ich mich durch die schwüle Atmosphäre postpubertärer
Adoleszenzprosa geblättert, bis der Lesefluss auf Seite 197 jäh stoppte bei
dem Satz: „Es war die Tochter des Hauses, ein Kind von fünfzehn Jahren, ein
stilles, kränkliches Geschöpf mit schönen Augen, aber mit einem Schaden am
Hüftgelenk, der sie hinken machte.“
Liebe Güte, das war ja ich! Also still eher nicht, aber kränklich, 15,
schöne Augen kam alles ungefähr hin und vor allem das Hüftgelenk, das
Hinken, ein Teenager mit Gehbehinderung! Wie ich.
Es war, als hätte ich bisher hinter der Bühne gestanden und heimlich durch
den Vorhang geschielt auf das, was nicht für mich bestimmt war, weder als
Handelnde noch als Zuschauerin, und nun plötzlich hatte Hermann Hesse den
Vorhang weggerissen und ich stand im Rampenlicht. So, wie ich war.
Ich kam nämlich in den Büchern, die ich las, nicht nur als Mädchen nicht
vor; Personen mit Behinderung gab es in der Literatur überhaupt keine.
Also es gab Kriegsversehrte und Kranke, die das Schicksal getroffen hatte,
worunter sie wahnsinnig litten. Aber normale Behinderte, wie ich sie
kannte, Kinder im Rollstuhl, mit Epilepsie oder Herzfehler, Kleinwüchsige,
also normale Leute, die einfach etwas länger brauchten als ihre
Altersgenoss*innen, waren mir bisher in der Literatur noch nicht begegnet.
## Der heilige Mitleidskuss
Bis jetzt bei Hesse. Fiebrig las ich weiter: „Er dankte ihr und küsste sie
zum Abschied mitleidig auf den schmalen Mund. Andächtig, mit geschlossenen
Augen, empfing sie den Kuss.“
Mitleidig. Klang jetzt nicht so geil, aber gut. Fünfzig Seiten später
taucht das Mädchen – sie heißt Marie – im Text wieder auf: „Ja, es war
Marie, es war das dürftige Kind mit dem kranken Hüftgelenk, das damals so
lieb und schüchtern für ihn gesorgt hatte (…) er hatte ihr einen Kuss
gegeben, den hatte sie so still und feierlich empfangen wie ein Sakrament.“
Bitte quittieren Sie den Empfang des Kusses unten rechts. Also sexy war
anders. Weiter im Text: „Jetzt war sie groß geworden und hatte sehr schöne
Augen, aber sie hinkte noch immer und sah etwas verkümmert aus.“ Sie hinkte
noch immer. War kein Wunderheiler vorbeigekommen. Ach Mensch! Dann weiter
unten: „Er blieb, weil (…) die Liebe der armen Marie ihm wohltat. Er konnte
sie nicht erwidern, er konnte ihr nichts geben als Freundlichkeit und
Mitleid, aber ihre stille demütige Anbetung wärmte ihn doch.“
Und das von einer Männerfigur, die es wirklich mit allem treibt, was – um
es mit der Berliner Band Die Ärzte zu sagen – „nicht bei drei auf den
Bäumen ist“. Dick, dünn, alt, jung, arm, reich, alles kein Problem, alles
findet Goldmund attraktiv, aber bei Behinderung hört der Spaß auf, da ist
die Libido im Keller, Behinderung ist die ultimative Grenze des
Begehrenswerten, der Punkt, an dem die Sexualität ausgespielt hat und durch
Mitleid ersetzt wird, da wird der Callboy plötzlich zu Jesus, weil nur
Jesus sich den Aussätzigen nähern konnte, ohne sich anzustecken oder sich
vor Ekel zu übergeben, was diesen Mitleidskuss dann auch noch zur heiligen
Handlung stilisiert. Und na ja, ungefähr an dem Punkt meiner Überlegungen
warf ich das Buch dann gegen die Wand.
## Ein Weiter Weg
Emanzipation ist kein Automatismus, sondern ein fortlaufender Prozess
ständiger Analyse. „Narziss und Goldmund“ erschien 1930 und kann als
humanistischer Gegenentwurf zu damals populären sozialdarwinistischen
„Rassenhygiene“-Theorien gelesen werden, die kurz darauf im systematischen
Massenmord der Nationalsozialisten an Behinderten, Juden und allen als
„lebensunwert“ Aussortierten kulminierte.
Alles lange her. 2006 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention
verabschiedet „in Anerkennung des wertvollen Beitrags, den Menschen mit
Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften
leisten und leisten können“. 2009 wurde sie in Deutschland anerkannt. Heute
fährt in jeder Fernsehserie ein Schauspieler im Rollstuhl durchs Bild, in
jeder Schule gibt es einen Inklusionsbeauftragten.
Doch sortiert wird noch immer. Im kollektiven Bewusstsein ist der
Mitleidstopos bis heute die häufigste Verknüpfung mit Behinderung und
Krankheit. Der Behinderte existiert in Literatur, Film und Fernsehen vor
allem als lebende Vanitas. So tapfer, wie er sein Schicksal erträgt. Oft
sogar in Verknüpfung mit dem zur Erlösung verklärten Euthanasiegedanken.
Wie im Weltbestseller „Ein ganzes halbes Jahr“ von Jojo Mojes (2012), wo
sich die Krankenschwester – als Symbiose aus Care-Arbeiterin und
Sexualobjekt die perfekte Frau – in ihren querschnittsgelähmten Patienten
verliebt und ihn am Ende aus Liebe von dem Leiden erlöst, das sein Leben
darstellt. Denn Leben mit Behinderung und Krankheit gilt auch heute, 18
Jahre nach Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention, vor allem als
unerträglich, undenkbar – und als Zumutung für die Gesellschaft.
Der Theologe und Behindertenaktivist Matthias Vernaldi erklärte mir einmal,
das einzige Tattoo, das er sich stechen lassen würde, wäre ein Schriftzug
quer über die Brust „Ich will leben!“, damit ihm keine Person mit
Erlöserfantasien den Saft abdrehe, falls er wieder einmal im Krankenhaus
auf der Intensivstation im künstlichen Koma liege.
## Die Sendung mit dem Mitleid
Inklusion ist heute Gesetz. Doch der Blick auf Behinderte ist immer noch
geprägt von einer falschen Barmherzigkeit, die dazu dient, die eigene
Schwäche auszublenden und durch Abgrenzung gegen das angeblich Kranke,
Schwache, Bemitleidenswerte das Ideal des optimierten Menschen als Norm zu
postulieren.
Und weil es dafür immer noch zu wenig Bewusstsein gibt, habe ich – dreißig
Jahre nachdem der Hesse gegen die Wand flog – neulich fast unseren
Fernseher aus dem Fenster geworfen. Anlass war eine Ausgabe der „Sendung
mit der Maus“ vom WDR zum „Tag der seltenen Krankheiten“ am 29. Februar.
Porträtiert wurde eine Grundschülerin mit Behinderung. Der Beitrag nahm die
gesamte Sendezeit ein, keine Lachgeschichten, wenige Maus-Clips, zu lachen
gab’s hier diesmal nichts.
Eine halbe Stunde lang mussten wir dabei zusehen, wie die achtjährige Mona
von der erwachsenen Redakteurin ihrer Intimsphäre beraubt wurde, wie sie
ihren Alltag, ihre Behandlungen und ihre Krankheit erklärte, unterlegt mit
melancholischer Musik, was jede Autonomie des Kindes unterminierte.
Etwa in der Mitte der Sendung musste ich den Raum verlassen.
Da sitzt die Redakteurin mit Mona und ihrer besten Freundin auf dem
Spielplatz.
Redakteurin: „Was mögt ihr gerne aneinander?“
Beide Mädchen: „Wir tanzen und singen gerne …“
Schnitt. Neue Frage an die Freundin der Protagonistin: „Was magst du
besonders an Mona?“
Freundin: „Äh …“ (Schnitt. Close-up Gesicht, sie blickt zu Boden, sehr
nervös) „… wenn sie hinfällt und was nicht schafft, dass sie einfach wied…
aufsteht und weitermacht.“
Die Redakteurin nickt zufrieden.
„Nein“, rufe ich auf dem Sofa neben meinem Sechsjährigen. Seit Minuten habe
ich mich gewunden und dazwischengemeckert. Und dann kam das Schlimmste. Die
Gegenfrage der Redakteurin an Mona, warum sie gerne mit ihrer Freundin
zusammen ist. Sie hat es schon gesagt, aber Kinder sind gewohnt, den
Erwartungen der Erwachsenen zu entsprechen, der schielende Blick ist
überlebenssichernd für jede vulnerable Gruppe. Und so antwortet das Mädchen
souverän lächelnd: „Sie ist immer so nett zu mir und hilft mir beim
Aufstehen.“ An der Stelle hätte ich dann fast den Fernseher aus dem Fenster
geworfen.
31 Mar 2024
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
UN-Behindertenrechtskonvention
Inklusion
Literatur
Hermann Hesse
Leben mit Behinderung
wochentaz
Schwerpunkt Feministischer Kampftag
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