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# taz.de -- Ein Jahr nach Amoktat in Hamburg: Im Schnelldurchlauf zur Mordwaffe
> Vor einem Jahr tötete Philipp F. in Hamburg sechs Zeugen Jehovas. Bei
> seiner Waffensachkunde-Prüfung ging es drunter und drüber.
Bild: Kontrolle ist gut, Verbot wär' besser: Vor dem Tatort in einem Versammlu…
Hamburg taz | Ein Jahr ist es her, dass Philipp F. in Hamburg mit seiner
Pistole in eine Versammlung der Zeugen Jehovas stürmte. Er tötete sechs
Menschen und einen Fötus, verletzte neun weitere zum Teil schwer, bevor er
sich selbst erschoss. Immer noch ungeklärt ist, ob die Amoktat hätte
verhindert werden können.
Die Ermittlungen gegen einen Mitarbeiter der Hamburger Waffenbehörde wegen
fahrlässiger Tötung und Körperverletzung dauern an. Er soll einen Hinweis
aus dem Hanseatic Gun Club (HGC), wo F. das Schießen gelernt hatte, auf
dessen psychische Labilität weder dokumentiert noch weitergeleitet haben.
Hätte er das getan, hätten sich die Waffenkontrolleure vor ihrem Hausbesuch
bei F. zu Hause möglicherweise genauer über ihn informiert – und wären üb…
dessen [1][alarmierend wirre Schriften im Netz] gestolpert.
[2][Im Laufe der Ermittlungen] kam heraus, das dieser mutmaßlich säumige
Behördenmitarbeiter, der immer noch vom Dienst suspendiert ist, nebenbei
selbst in jenem Schießstand nahe der Hamburger Binnenalster gejobbt hat.
Ein Interessenkonflikt liegt zumindest nahe.
Der Club ist an derselben Adresse sowohl ein eingetragener
Sportschützenverein als auch ein kommerzieller Schießstand. Er hatte damals
offensiv auf seiner Website geworben, der Weg zur eigenen Waffe sei „nicht
so dornenreich, wie es anfänglich scheinen mag“. – Genau das Richtige für
Philipp F., denn der hatte seine Amoktat offenbar lange geplant und alles
daran gesetzt, so schnell wie möglich an eine eigene Pistole zu kommen.
Nach etwas über einem Jahr hatte er die Waffenbesitzkarte in der Tasche.
## Zu oft daneben geschossen
Abenteuerlich klingt, wie der spätere Amoktäter F. zu dieser
waffenrechtlichen Erlaubnis gekommen ist. Bei der Prüfung im Hanseatic Gun
Club ging es drunter und drüber. Das geht aus der Einstellungsverfügung
hervor, mit der der Hamburger Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen
gegen die drei Prüfer beendet hat.
F. hatte zwar die theoretische Prüfung im April 2022 auf Anhieb bestanden.
Aber durch die praktische Prüfung, bei welcher der Vorsitzende des
Prüfungsausschusses schon gar nicht mehr dabei war, fiel er durch: zu viele
Fehlschüsse. Die Urkunde über die bestandene Prüfung war da längst
ausgestellt und von den drei Prüfern unterschrieben.
Philipp F. musste ein halbes Jahr später zu einer Nachprüfung antreten, die
allerdings nicht wie vorgeschrieben bei der Waffenbehörde angemeldet war.
Die Nachprüfung nahm ein Beisitzer des Prüfungsausschusses, der zugleich
Mitarbeiter des Hanseatic Gun Club war, allein vor. Den beiden anderen
Mitgliedern teilte er lediglich per Whatsapp mit, dass F. nun „bestanden“
habe. Angeblich war jeder Schuss ein Treffer. Dokumentiert ist dieses
Prüfungsergebnis nicht.
Eigentlich hätte die ganze Prüfung im Hanseatic Gun Club gar nicht
stattfinden dürfen. Denn der Vorsitzende des Prüfungsausschusses, der als
Veranstalter auftrat, hat von seinem Heimatkreis Segeberg genaue Auflagen
bekommen, wie er eine Waffensachkundeprüfung durchzuführen hat. Und die
sind für ihn bundesweit gültig, wie die Segeberger Waffenbehörde bestätigt.
Dazu gehört unter anderem eine Schießprüfung mit einem Repetiergewehr,
wofür ein 100-Meter-Schießstand nötig wäre. Der ist im HGC aber nicht
vorhanden.
Philipp F. schoss bei seiner Prüfung deswegen nur mit zwei Pistolen und
einem Gewehr. Dennoch steht fälschlicherweise „Langwaffen“ im Plural in dem
fertigen Prüfungszeugnis, das Philipp F. Anfang November ausgehändigt
bekam. Anfang Dezember erhielt er daraufhin von der Hamburger Waffenbehörde
eine Waffenbesitzkarte.
Darin ließ er die spätere Tatwaffe eintragen, eine halbautomatische Pistole
Heckler & Koch P 30 L, die er schon Monate vorher gekauft hatte. Nun konnte
er sie aus der Verwahrung im Gun Club abholen – und auch die
Neun-Millimeter-Munition bestellen: hunderte Patronen. Drei Monate später
waren sieben Menschen tot, einer davon Philipp F. selbst.
Derartige Schludereien, oder „Verfahrensmängel“, wie es im Juristendeutsch
heißt, stellte die Staatsanwaltschaft auch bei anderen Prüfungen derselben
Prüfer fest. Dennoch hat sie die Ermittlungen wegen Falschbeurkundung gegen
die drei Männer Mitte Februar eingestellt, ohne Auflagen für die
Beschuldigten.
Sie hätten Philipp F. die Waffensachkunde nicht wider besseres Wissen
bescheinigt, heißt es in einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft zum
Einstellungsbeschluss. Die „strafwürdigen Falschangaben“ hätten die Prüf…
vor allem aus „pragmatischen“ Gründen gemacht, weil im HGC kein
100-Meter-Schießstand verfügbar war.
Man könnte auch sagen: Die Prüfer haben alles daran gesetzt, dass Philipp
F. schnell und unkompliziert zu einer eigenen Waffe kam, wie es die Werbung
des Hanseatic Gun Club versprochen hatte. Dafür hat ein Mitarbeiter sogar
eine unangemeldete, undokumentierte Nachprüfung ohne vollständige
Prüfungskommission durchgeführt.
Ob es am Lauf der Dinge etwas geändert hätte, hätten sich die Prüfer an
Recht und Gesetz gehalten, hat die Staatsanwaltschaft nicht untersucht.
Möglich wäre es immerhin, dass sich Philipp F.s Weg zur eigenen Waffe
verlängert hätte – und er in der Zwischenzeit doch auffällig geworden wär…
## Ein Flickenteppich an Waffenbehörden
Die Staatsanwaltschaft nennt weitere Gründe dafür, die drei Männer nicht zu
verfolgen: Es sei zweifelhaft, ob sie das begangene Unrecht erkannt hätten,
weil einerseits im Waffengesetz keine einheitliche Prüfungsordnung für die
Waffensachkunde vorgesehen sei und andererseits ältere Auflagen für Prüfer
aus Schleswig-Holstein mit dem heutigen Waffenrecht in Konflikt stünden.
Der Flickenteppich aus hunderten Waffenbehörden in Deutschland, die ihre
eigenen Regeln machen, ist offenbar selbst für Insider nicht mehr
durchschaubar. Doch eine von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nach
dem Massaker an den Zeugen Jehovas angekündigte Verschärfung des
Waffenrechts scheitert bislang am Widerstand der FDP.
Auch an Hamburger Behörden übt die Generalstaatsanwaltschaft scharfe
Kritik: Zu berücksichtigen sei bei der Entscheidung auch, dass die
Waffenbehörde „offenbar aus Kapazitätsgründen davon absieht, einer
örtlichen Sachkundeprüfung beizuwohnen sowie eine stichprobenartige
Kontrolle von Prüfunterlagen“ vorzunehmen. Die bei der Polizei angesiedelte
Behörde nehme die gebotene Fachaufsicht nicht wahr.
Zumindest das hat sich seither geändert: Seit der Amoktat vor einem Jahr
entsendet die Waffenbehörde zu jeder angemeldeten Sachkundeprüfung einen
zusätzlichen Beisitzer – „bis auf Weiteres“, teilt die Polizei mit. Dazu
ist die Behörde in der Lage, weil ihr Personal um ein gutes Viertel
aufgestockt wurde. [3][Routinen wurden überarbeitet, Bedienstete
nachgeschult,] die Zahl der unangekündigten Kontrollen bei Waffenbesitzern
gegenüber dem Vorjahr fast vervierfacht.
Im [4][Hanseatic Gun Club] wurden seit der Amoktat von Philipp F. keine
Sachkundeprüfungen mehr angemeldet. Ob sie genehmigt würden – womöglich
sogar von denselben, rechtlich unbescholtenen Prüfern – kann die Behörde
derzeit noch nicht sagen.
In einer früheren Fassung hatte es geheißen, der Amoktäter habe auch eine
schwangere Frau getötet. Die Frau hat jedoch überlebt, getötet wurde ihr
Fötus. Wir haben den Fehler korrigiert. Wir haben außerdem im Teaser das
Wort „Waffenschein-Prüfung“ durch „Waffensachkunde-Prüfung“ ersetzt.
11 Mar 2024
## LINKS
[1] /Amok-Attentaeter-von-Hamburg/!5921159
[2] /Amoktat-bei-Zeugen-Jehovas-in-Hamburg/!5927669
[3] /Nach-Amoktat-in-Hamburg/!5938987
[4] https://hanseatic-gun-club.de/
## AUTOREN
Jan Kahlcke
## TAGS
Waffen
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