# taz.de -- Berlinalefilm in der Westbank: Kein anderes Land | |
> Basel Adra und Yuval Abraham wurden in Berlin für ihren Film über die | |
> israelische Besatzung ausgezeichnet. Jetzt zeigten sie ihn dort, wo er | |
> entstand. | |
Bild: Eine Siedlung in Masafer Yatta | |
MASAFER YATTA taz | Umringt von Journalisten sitzen Basel Adra und Yuval | |
Abraham in Adras altem Klassenzimmer im Dorf At-Tuwani. Im Schulhof warten | |
an diesem Donnerstagabend rund 400 Gäste darauf, den Film „No Other Land“ | |
zu sehen, mit dem die beiden Filmemacher Ende Februar auf der Berlinale den | |
Preis für den besten Dokumentarfilm gewannen. „Ich freue mich, dass so | |
viele gekommen sind“, sagt Adra. „Aber ich weiß, dass viele aus den | |
Nachbardörfern sich nicht getraut haben, weil ihnen der Weg in der | |
Dunkelheit zu gefährlich ist.“ | |
At-Tuwani liegt im von Israel besetzten Westjordanland. Im Schatten des | |
Kriegs in Gaza [1][hat auch hier die Gewalt massiv zugenommen]. Seit dem 7. | |
Oktober wurden hier mehr als 400 Palästinenser getötet, teils bei | |
bewaffneten Auseinandersetzungen, teils als Unbeteiligte bei Razzien oder | |
Zusammenstößen, teils von Siedlern. | |
Wenige Tage nach Kriegsbeginn tauchte ein Video aus At-Tuwani auf, auf dem | |
ein israelischer Siedler zu sehen ist, der einen Palästinenser aus wenigen | |
Metern Entfernung in die Brust schießt. Der Tatort liegt wenige hundert | |
Meter von der Schule entfernt, der Angeschossene ist Adras Cousin Zakriha. | |
Er überlebte schwer verletzt, ein Teil seines Magens musste entfernt | |
werden. „Seit dem 7. Oktober haben fünf Gemeinden hier ihre Dörfer aus | |
Angst aufgegeben“, sagt Adra. | |
In ihrem Film „[2][No Other Land]“ zeigen Adra, Abraham und ihre | |
Co-Regisseure Hamdan Ballal und Rachel Szor, wie die Bewohner von Masafer | |
Yatta, einer Handvoll palästinensischer Dörfer im äußersten Süden des | |
Westjordanlands, bereits seit Jahren gegen ihre gewaltsame Vertreibung | |
durch die israelische Armee und religiös-nationalistische Siedler kämpfen. | |
Der nächste Siedlungsaußenposten liegt wenige hundert Meter von At-Tuwani | |
entfernt. | |
## Debatten nach der Berlinale | |
Bei der Preisverleihung in Berlin hatten unter anderem die Dankesreden der | |
Regisseure [3][für heftige Debatten in Israel und Deutschland gesorgt], | |
nachdem Basel Adra von „Massakern“ in Gaza und Yuval Abraham von | |
„Apartheid“ gesprochen hatten. Die Vorführung am Donnerstag in seinem | |
Heimatdorf eröffnet Adra mit den Worten: „Wir werden weiterhin über die | |
Menschen in Gaza und in Masafer Yatta sprechen und wir hoffen, dass wir | |
nach vorne schauen und eines Tages die Besatzung beenden können.“ Applaus | |
im Publikum, in dem einige Menschen palästinensische Fahnen schwenken. | |
In den 1980er Jahren wurde das Gebiet von Masafer Yatta von Israel zum | |
Truppenübungsplatz erklärt. [4][Protokolle eines Ministertreffens aus dem | |
Jahr 1981 belegen,] dass der damalige Agrarminister Ariel Sharon damit | |
gezielt den Ausbau palästinensischer Dörfer verhindern wollte. Seither | |
wurden in mehreren Wellen Häuser zerstört und deren Bewohner vertrieben. | |
Bis 2022 wehrte sich die Gemeinschaft juristisch. Dann entschied Israels | |
oberstes Gericht, dass die „Firing Zone 918“ rechtens sei und die dortigen | |
Palästinenser keine „dauerhaften Bewohner“ seien. | |
„Sie haben uns zu Fremden in unserem eigenen Land gemacht“, sagt einer der | |
Beduinen im Film. Was die Besucher, viele von ihnen jüdische Israelis aus | |
Tel Aviv und Jerusalem, an diesem Abend auf der Leinwand sehen, zeigt die | |
langsame, aber stetige Eskalation der Gewalt seitens extremistischer | |
Siedler und der Armee. | |
„No Other Land“ beginnt im Sommer 2019, als Bulldozer anrücken, um ein Haus | |
in dem Gebiet zu zerstören. Die Bewohner schaffen hektisch ihre wichtigsten | |
Dinge hinaus. „Meine Tochter ist noch da drin“, ruft eine Frau den | |
israelischen Grenzpolizisten vor ihr zu. „Egal, geh weiter“, erwidert | |
einer. Kurz darauf zertrümmern die Stahlzähne der Schaufel die Wände des | |
Hauses. Den Bewohnern bleibt nur: zuzusehen. | |
## Soldaten konfiszieren die Bauwerkzeuge | |
Die Kameras begleiten Adra und Abraham fünf Jahre lang, in denen sich | |
solche Szenen wiederholen und dennoch nichts von ihrem Schrecken verlieren, | |
auch angesichts der Machtlosigkeit, mit der die Palästinenser und ihre | |
Unterstützer alldem gegenüberstehen. Der verantwortliche israelische Leiter | |
der Abrissoperationen, er wird im Film „Ilan“ genannt, fungiert als | |
Gegenspieler. Er trägt stets eine verspiegelte Sonnenbrille und ein | |
schwarzes T-Shirt. Wortlos teilt er die Räumungsbescheide aus. Jede Frage | |
oder Bitte der Betroffenen ignoriert er. | |
„Wir können unsere Räumung aufhalten, wenn wir zeigen, was hier passiert“, | |
sagt Adra mehrmals im Film. Doch in 95 Minuten werden die Zuschauer Zeugen, | |
wie den Bewohnern von Masafer Yatta zunehmend die Möglichkeiten ausgehen, | |
sich zu wehren. Der heimliche Wiederaufbau eines Hauses in der Nacht | |
scheitert, als Soldaten die Werkzeuge konfiszieren. Dabei schießt ein | |
israelischer Soldat bei einem Streit um einen Generator dem Anfang | |
20-jährigen Sohn der Familie in den Hals. Er überlebt querschnittsgelähmt. | |
Die Armee verweigert den Bau eines neuen Hauses, seine Mutter pflegt ihn | |
bis zu seinem Tod Anfang 2023 in einer Höhle, in die die Familie umzieht. | |
Auch werden Demonstrationen regelmäßig mit Tränengas aufgelöst. Ein Farmer | |
muss mitansehen, wie seine Wasserstelle von einem Betonmischer zugeschüttet | |
wird. Adras Vater wird verhaftet. | |
Währenddessen nimmt auch die Gefahr zu, in die sich die Filmemacher | |
begeben, indem sie mit Artikeln und Videos das Vorgehen der Armee | |
dokumentieren. Bei einer Razzia in seinem Dorf entgeht Basel Adra nur knapp | |
seiner Festnahme. „Was denkst du, dass du hier filmst, du Hurensohn“, ruft | |
der Soldat, der ihm hinterherjagt. Bei einem Überfall von vermummten und | |
bewaffneten Siedern ruft einer: „Holt euch den Kameramann!“ | |
## Die Strategie von Masafer Yatta | |
Deutlich wird dabei aber auch, dass die Gefahr für den Palästinenser Adra | |
größer ist als für den jüdischen Israeli Yuval Abraham, der nur selten | |
körperlich angegangen wird. „Ich lebe unter Zivilrecht, Basel unter | |
Militärrecht“, wiederholt Abraham am Rande der Vorführung am Donnerstag | |
seine Worte aus der Berlinale-Preisrede in Berlin. „Ich kann ihn besuchen, | |
er kann nicht nach Israel kommen.“ | |
In Masafer Yatta ist daraus eine Strategie entstanden: Jüdische Israelis | |
und internationale Aktivisten kommen seit Jahren zum Schutz der Bewohner in | |
die Dörfer. „Ich bin in einem Haus voller Aktivisten aufgewachsen“, sagt | |
Adra im Film. Auch viele Zuschauer im Hof der Schule sind nicht zum ersten | |
Mal hier. „Es ist ein emotionaler Moment, zu sehen, wofür die beiden so | |
viele Jahre gearbeitet haben“, sagt die 28-jährige Israelin Maya Eshel, die | |
seit zwei Jahren regelmäßig nach Masafer Yatta fährt. „Ich bin heute auch | |
hier, um sie zu unterstützen.“ Die Kritik in Israel und Deutschland | |
empfindet sie als Ablenkung. „Viele Menschen wollen nicht sehen, was hier | |
passiert.“ | |
Yuval Abraham selbst findet den Vorwurf des Antisemitismus seitens | |
deutscher Politiker und Medien unverschämt. Eine Botschaft „gegen den | |
Krieg, für Gleichheit und ein Ende der Besatzung“ antisemitisch zu nennen, | |
nehme dem Begriff jede Bedeutung. „Als jemand, dessen Familie während des | |
Holocaust ermordet wurde, finde ich die Verwendung dieses Begriffs, um | |
Gegner zum Schweigen zu bringen, gerade in Deutschland eine Schande.“ | |
Angesichts von mehr als zehntausend getöteten Kindern in Gaza durch | |
israelische Bomben müsse Kritik legitim sein. Stattdessen sei Abrahams | |
Familie durch die Vorwürfe in Gefahr gebracht worden, als Leute zum Haus | |
seines Vaters gekommen seien. Doch im Gegensatz zu Adra könne er nachts | |
schlafen, ohne zu befürchten, dass plötzlich Soldaten die Türe aufbrechen | |
würden. | |
## Eine Lösung von Außen | |
Im Verlauf des Films schwindet Basel Adras anfänglicher Optimismus. „Du | |
willst alles in zehn Tagen lösen, aber diese Besatzung geht seit | |
Jahrzehnten. Du brauchst Geduld“, sagt er zu Abraham während einer | |
Autofahrt in der Mitte des Films, als dieser hadert, ob seine Artikel etwas | |
bewirken. Gegen Ende zeigt „No Other Land“ den anfangs fröhlichen jungen | |
Mann zunehmend stiller, nachdenklicher. Israel sei technologisch und | |
militärisch weit überlegen. „Aber trotz all ihrer Macht werden sie | |
scheitern“, sagt er. Die Palästinenser würden nicht weggehen. | |
Nach der Vorführung sagt Basel Adras, er hoffe, dass der Film etwas | |
bewirke, besonders bei Menschen im Ausland. „Hier kann eine Lösung nur noch | |
von außen kommen.“ | |
15 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Gewalt-im-Westjordanland/!5988866 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=7VpWvy-G82o | |
[3] /Nach-Israel-Aeusserungen-auf-Berlinale/!5992242 | |
[4] https://www.haaretz.com/israel-news/2020-08-09/ty-article/.premium/40-year-… | |
## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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