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# taz.de -- Terrorgruppe „Brigate Rosse“ in Italien: Die Regierung kämpft …
> Auch Italien hat einen ambivalenten Umgang mit seiner linken
> Terrorgruppe. Manche Ex-Mitglieder der „Brigate Rosse“ werden bis heute
> verfolgt.
Bild: Ein Graffito für die „Brigate Rosse“ 1977 in Mailand
Die Parallelen stechen ins Auge. Genauso wie die [1][RAF] in Deutschland
begannen die [2][Brigate Rosse] (BR) in Italien in den frühen siebziger
Jahren ihren bewaffneten Kampf. Mit Morden an Polizisten, Politikern,
Managern, Journalisten. Mit der Entführung Hanns Martin Schleyers oder des
christdemokratischen [3][Spitzenpolitikers Aldo Moro]. Mit Raubüberfällen
auf Banken und Waffengeschäfte.
Und genauso wie in Deutschland bedeutete das für die Terrorist*innen: Sie
mussten abtauchen in den Untergrund – bis zum Tod bei einem Feuergefecht
mit der Polizei oder bis zur Verhaftung und darauffolgenden jahrelangen
Gefängnisaufenthalten.
In beiden Ländern sind die Kämpfer*innen von damals heute im
Rentenalter. Ihre Organisationen haben schon vor Jahrzehnten die Waffen
niedergelegt. Von einer akuten linksterroristischen Gefahr kann längst
keine Rede mehr sein.
Doch ein Unterschied zwischen beiden Ländern ist markant. In Deutschland
waren es nur ein paar dutzend Personen, die für die RAF zu den Waffen
griffen, in Italien dagegen gab es hunderte abgetauchte Kämpfer*innen, dazu
eine mehrere tausend Personen umfassende Unterstützer- und
Sympathisantenszene.
## Über tausend Angeklagte
Als Angehörige der Roten Brigaden oder von ihr abgespaltener Organisationen
fanden sich rund 1.200 Angeklagte vor den Gerichten wieder – und mindestens
ebenso viele waren bei „kleineren“ Terrorformationen aktiv; allein die nach
den BR zweitgrößte Organisation, Prima Linea, kam auf etwa 900 Aktive,
gegen die die Justiz ermittelte. Insgesamt wird die Zahl der in den
siebziger und achtziger Jahren verhafteten Linksterrorist*innen auf
4.000 geschätzt.
Die Brigate Rosse und die anderen Gruppierungen hatten eine große Blutspur
im Land hinterlassen: 197 Menschen fielen ihnen zum Opfer, der letzte Tote
war der im Jahr 2002 von den „Neuen BR“ erschossene Arbeitsrechtsprofessor
Marco Biagi. Der Staat reagierte seinerseits mit großer Härte und sperrte
die gefassten Terrorist*innen in Hochsicherheitsgefängnisse.
Nach der Entführung des US-Generals James Lee Dozier im Dezember 1981 und
seiner späteren Befreiung durch die Polizei kristallisierte sich heraus,
dass die Fahnder nur dank der Folter von Gefangenen dem Entführungskommando
auf die Spur gekommen waren.
Und bis heute steht der Vorwurf im Raum, dass Beamte beim Sturm auf ein
BR-Versteck in Genua im März 1980 mindestens einen der vier dort angeblich
bei einem „Feuergefecht“ erschossenen Brigadist*innen gezielt
hingerichtet haben, nachdem der schon entwaffnet worden war.
## Italien ging auf Terrorist*innen zu
Neben extremer Härte setzte der italienische Staat in einer eigentümlichen
Dialektik jedoch auch auf ein hohes Maß an Flexibilität im Umgang mit den
Aktivist*innen der Terrorgruppen, die ihm ins Netz gegangen waren.
Vorneweg war da die Kronzeugenregelung, die 1982 per Gesetz eingeführt
wurde. „Pentiti“, „Reuige“, werden in Italien diejenigen genannt, die
auspacken. Wer immer als Kämpfer*in der BR nicht nur die eigenen Taten
gestand, sondern auch die Mittäter*innen beim Namen nannte, durfte auf
einen kräftigen Strafnachlass hoffen. Aus „lebenslänglich“ wurden zehn
Jahre Haft, und alle anderen zeitlich begrenzten Haftstrafen wurden
halbiert.
Jenes Gesetz war der Anfang vom Ende des Linksterrorismus in Italien. So
packte Patrizio Peci, führender Rotbrigadist, den die Polizei 1980
festnahm, umgehend aus und wurde später auch vor Gericht zu einem wichtigen
Zeugen, lieferte Hunderte Kämpfer*innen ans Messer – und wurde selbst zu
nur acht Jahren Haft verurteilt.
Obwohl die Roten Brigaden grausame Rache an ihm nahmen, seinen Bruder
entführten und ermordeten, sollte Peci nicht allein bleiben. In den
folgenden Jahren sagten Dutzende Angehörige der Brigate Rosse, der Prima
Linea und anderer Gruppen aus, sorgten so für die Verhaftung von Hunderten
Militanten und erhielten ihrerseits geringfügige Haftstrafen – selbst dann,
wenn sie an zahlreichen Morden beteiligt waren.
Doch auch jenen, die nicht gegen Mitstreiter*innen aussagen wollten,
machte der Staat ein Angebot. Für sie gab es in den Jahren 1980 und 1987
zwei Gesetze über die dissociazione, die „Lossagung“ vom bewaffneten Kampf
gegen den Staat. Sobald sie erklärten, dass sie mit ihrer terroristischen
Vergangenheit gebrochen hatten, durften auch sie auf Strafnachlass hoffen.
Valerio Morucci zum Beispiel war einer der Chefs der Roten Brigaden in Rom
gewesen und gehörte zu jenem Kommando, das am 16. März 1978 den Politiker
Aldo Moro entführt und dessen fünf Begleitschützer ermordet hatte, während
Moro selbst am 9. Mai von den BR erschossen werden sollte.
Gemeinsam mit seiner damaligen Lebensgefährtin Adriana Faranda sollte
Morucci sich kurz nach seiner Verhaftung im Jahr 1979 vom Kampf der BR
lossagen; in dem Prozess zu Moros Entführung verlas er ein von 170
Gefangenen mitunterzeichnetes Dokument mit dem Titel: „Um einen Dialog
mit der Gesellschaft wieder zu eröffnen“. Die Gerichte honorierten das mit
kräftigem Strafnachlass, und er, den eigentlich eine Verurteilung zu
lebenslanger Haft erwartete, wurde schon 1990 zum Freigänger.
## In Frankreich untergetaucht
Selbst jenen, die weder auspacken noch dem bewaffneten Kampf abschwören
wollten, streckte der italienische Staat die Hand aus. Da wären etwa Renato
Curcio, ein weiterer Gründer der Roten Brigaden, oder Barbara Balzerani,
Anführerin der BR. Beide hatten sich immer zur Geschichte ihrer
Organisation bekannt, zugleich aber 1987 erklärt, der bewaffnete Kampf
gehöre angesichts der veränderten historischen Bedingungen nunmehr der
Geschichte an.
Dies reichte den Gerichten, um dem 1976 verhafteten Curcio im Jahr 1992 den
Status des Freigängers einzuräumen und ihn im Jahr 1998 endgültig auf
freien Fuß zu setzen. Und auch die wegen diverser Morde verurteilte Barbara
Balzerani, verhaftet 1985, wurde 2006 auf Bewährung entlassen.
Macht Italien dies zum Gegenmodell gegenüber jenem Deutschland, das sich
dafür feiert, endlich die RAF-Rentnerin Daniela Klette verhaftet zu haben?
Wohl kaum. Denn es sitzen nicht nur weiterhin drei BR-Gefangene, die sich
für den bewaffneten Kampf aussprechen, in Hochsicherheitshaft. Auch auf die
Jagd auf frühere Kämpfer*innen, die längst im Pensionsalter sind, will der
italienische Staat nicht verzichten.
Beispielhaft steht dafür Cesare Battisti, in Abwesenheit wegen mehrerer
Morde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Er war jahrzehntelang
auf der Flucht, hatte sich ein neues Leben als vor allem in Frankreich
gefeierter Schriftsteller aufgebaut, doch im Jahr 2019 erwischten die
italienischen Fahnder den damals 64-Jährigen in Bolivien und erwirkten
seine Auslieferung. Seither sitzt er in Haft.
Hinter Gittern will Italien auch jene zehn ergrauten Terrorist*innen
sehen, die schon seit den achtziger Jahren in Frankreich Unterschlupf
gefunden hatten; der Jüngste von ihnen ist heute 63 Jahre alt, der älteste
feierte bereits seinen 80. Geburtstag. Frankreich war für die
BR-Aussteiger*innen ungefähr das, was die DDR für müde RAF-Kämpfer*innen
darstellte: ein sicherer Rückzugsraum, in dem sie vor einer Auslieferung
geschützt waren. Zu verdanken hatten sie das der sogenannten
Mitterrand-Doktrin: 1985 hatte der damalige französische Präsident François
Mitterrand all jenen Mitgliedern von Terrorgruppen, die sich nicht des
Mordes schuldig gemacht hatten, Schutz in Frankreich zugesagt.
Italiens Regierungen jedweder Couleur liefen immer wieder Sturm gegen den
von Frankreich gewährten Schutz, stellten ein Auslieferungsgesuch nach dem
anderen. Und im April 2021 schien die Hartnäckigkeit Erfolg zu haben:
Sieben Ex-Terrorist*innen wurden in Paris in Auslieferungshaft
gesteckt, gegen weitere drei Abgetauchte wurden Haftbefehle erlassen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte mit den Worten: „Jene Personen,
die sich Bluttaten haben zuschulden kommen lassen, verdienen es, in Italien
vor Gericht zu stehen“, sein Einverständnis zu der Auslieferung erklärt.
Doch Frankreichs höchstes Gericht stellte sich quer. Erstens seien die
Gesuchten in Italien in Abwesenheit verurteilt worden, ohne nach einer
Auslieferung auf einen neuen Prozess hoffen zu können. Und zweitens lebten
sie seit 25 bis 40 Jahren in Frankreich, „einem Land, in dem sie eine
stabile familiäre Situation haben, sodass ihre Auslieferung einen
übermäßigen Schaden für ihr Recht auf Respekt ihres privaten und ihres
familiären Lebens darstellen würde“.
Italien reagierte umgehend mit einem von allen Parteien außer der
radikal-linken „Grün-linken Allianz“ im Abgeordnetenhaus verabschiedeten
Beschluss, nach dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das
Pariser Nein zur Auslieferung kippen soll. Der italienische Staat, genauso
wie der deutsche, hat sich offenbar ein altes Motto der Terrorist*innen
zu eigen gemacht: „Der Kampf geht weiter.“
13 Mar 2024
## LINKS
[1] /Angehoerige-von-RAF-Opfern/!5996828
[2] /Serie-ueber-Politiker-Entfuehrung/!5918821
[3] /Kommentar-Aufklaerung-Aldo-Moro-Mord/!5017568
## AUTOREN
Michael Braun
## TAGS
Terrorismus
Italien
Extremismus
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