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# taz.de -- Die Wahrheit: Die Vermuhung der Wiederkäuer
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (187): Kühe sind eben
> nicht nur unanständig viel rülpsende und pupsende Wesen.
Bild: Die bescheidenen Rindviecher stehen sehr gern auf der Weide, aber ungern …
Nietzsche war der Meinung: „Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und
liegen wie Kühe auf der Wiese.“ Er sorgte sich aber um die zunehmende
Verrinderung des Menschen und schrieb „der Fortschritt in Richtung Kuh ist
noch aufzuhalten. Und zwar dadurch, dass man den Versuch unternimmt, die
Kuh den echten menschlichen Idealen anzupassen.“ Dergestalt, dass sie nicht
mehr so unanständig viel rülpst und pupst?
Wir sollten uns entgegenkommen und die Kühe nicht auf reine
Produktionsmaschinen reduzieren, sondern bessere Menschen aus ihnen machen.
Die Schriftstellerin Karen Duve sah das 2014 in ihrem Essay „Warum die
Sache schiefgeht“ bereits vor sich. Ihre pessimistische Weltsicht schöpfte
nur daraus Hoffnung, dass nach dem Untergang der Menschheit eine andere
Spezies hochkommt: „Großäugige, intelligente Weidetiere. Es kann doch
eigentlich nur besser werden.“
## Ganzheitliche Mitkühe
Kuhforscher Robert W. Hegner würde ihr da zustimmen. Er setzte die
Wiederkäuer schon vor dem Siegeszug des Anthropozäns an die Spitze der
evolutionären Säugetierentwicklung, weil ihr Verdauungssystem weiter als
das menschliche Gehirn spezialisiert sei.
„Die Kühe haben das Wort!“, verkündete Bruno Latour im Jahr 2000. Das
Entscheidende sei dabei, so Latour, „dass die Debatte über die Kuh nicht
länger auf der Basis feststehender wissenschaftlicher Tatsachen geführt
wird. Die Situation der Moderne ist vorbei, und damit ist auch die moderne
Hoffnung überholt, den Wissenschaftlern die Kühe zu überlassen und den
Politikern die Entscheidungen für die Menschen. Jetzt stehen die Kühe,
vertreten durch vielfältige Interessen, mitten in der Arena. Die objektive
Kuh gibt es nicht.“ Auf der Agrarmesse „Grüne Woche“ verwendete eine
„ganzheitlich“ orientierte Tierärztin in ihrem Vortrag bereits das Wort
„Mitkühe“.
Pablo Neruda erwähnte in seinen „Memoiren“ einen spanischen Dichter, der
seine Kuh überallhin mitnahm. Als man ihn einmal ins Parlament einlud, ließ
man das Tier jedoch nicht rein. Die Kuh soll auch bei Latour nicht selbst
am Verhandlungstisch sitzen, sondern durch diverse und kontroverse Sprecher
vertreten werden. Es gibt Völker wie die Tutsi, die ständig solche
Kuhkontroversen austragen, die ihre Rinder nicht schlachten, sie nur mäßig
melken und die auf das neue Jahr nicht mit Champagner, sondern mit Milch
anstoßen.
Ähnlich die nordamerikanischen Ureinwohner: Sie haben die Bisons nicht
gezähmt oder eingehegt. Ein kanadischer Indigener meinte zu einem
Ethnologen: „Unsere Vorfahren haben die Tiere geheiratet, sie haben ihre
Lebensweise kennengelernt, und sie haben diese Kenntnisse von Generation zu
Generation weitergegeben. Die Weißen schreiben bloß alles in ein Buch, um
es nicht zu vergessen.“ Schöne Scheiße!
## Klimaretter in Megaställen?
2023 erschienen zwei journalistische Bücher über die Rindviecher: „Die
Klima-Kuh“ von Florian Schwinn, eine Forschungsübersicht, und „Die Kühe,
mein Neffe und ich“ von Uta Ruge, eine Recherche. Sie vertreten die These,
dass die 1,6 Milliarden Kühe weltweit nicht nur keine „Klimakiller“ sind,
wie einflussreiche Weißkittel behaupten, sondern im Gegenteil, dass sie
wahre „Klimaretter“ sind.
Das ist doch mal ein neuer Gedanke, aber die Entwicklung der Kuh-Ausbeutung
bleibt des ungeachtet pervers: So steht die größte Milchproduktionsanlage
der Welt mit über 50.000 Kühen ausgerechnet in der Wüste Saudi-Arabiens, in
die das Futter für die Rinder eingeflogen werden muss. Und der Gründer des
Buchungsportals booking.com errichtet in Brasilien einen noch größeren
Stall für 100.000 Kühe.
## Wörterbuch der Kühe
Aber gewinnbringender als diese Butterberganhäufungen ist die Frage nach
dem Glück der Rinder. Die Onlineausgabe des Magazins National Geographic
korrigierte immerhin einen fatalen Kuh-Irrtum: „Unter Dorfkindern ist der
Mythos des ‚Kuhschubsens‘ weit verbreitet: Seit Generationen kursiert das
Gerücht, dass sich die schlafenden Kühe nachts auf der Weide ganz einfach
umschubsen lassen.“ Das ist falsch: „Zum einen schlafen Kühe nicht im
Stehen. Zum anderen kann von ‚einfach‘ nicht die Rede sein“ – sie wiegen
mindestens 500 Kilo. „Die Kühe würden bei einem solchen Annäherungsversuch
entweder weglaufen oder sogar mit einem Angriff reagieren.“ Außerdem
bedeuten solche „Scherze“ mindestens erheblichen Stress für sie.
Einen weniger fatalen Irrtum hat das Magazin gleich mitkorrigiert: „Bei der
Frage ‚Wie macht die Kuh?‘ ist die richtige Antwort darauf nicht nur
‚Muh‘.“ Der Kuhforscher Gerhard Jahns „hat zehn Laute identifiziert, die
zwar alle nach ‚Muh‘ klingen, mit denen Kühe jedoch verschiedene
Bedürfnisse ausdrücken. Der Agrarwissenschaftler entwickelte ein
‚Wörterbuch‘ für die Kuhsprache, in dem ca. 700 Lautäußerungen von 39 K…
verzeichnet sind.“
## Enttäuschendes Verhalten
Die FAZ interviewte einen holländischen „Kuhflüsterer“, Joep Driessen. Er
meinte, „dass das Leben einer Kuh nicht einfach ist. Auf der Weide ist es
eigentlich ein Paradies für sie. Aber die meisten Ställe sind nicht gut
genug.“ Die Weide bietet sechs Freiheiten für Kühe: „Licht, Luft, Ruhe,
Raum, Futter und Wasser. In den meisten Ställen werden diese sechs
Freiheiten nicht vollständig angeboten. Das ist die Hauptursache, warum die
meisten Kühe nur drei Kälber bekommen, also drei Milchperioden haben und
dann schon geschlachtet werden müssen – mit etwa fünf Jahren.“ In Sachsen
werde ein Viertel aller Milchkühe bereits nach der Geburt ihres ersten
Kalbs „ausgemustert“. In dieser kurzen Lebenszeit, in Massenställen mit
Melkrobotern womöglich, kann man weder die Kuhsprache lernen noch die Kuh
als Individuum wertschätzen.
Aber die Forscher sind sich nicht einig: Die US-Farmerin Rosamund Young,
Autorin des Buches „The Secret Lives of Cows“ (2003), versicherte: „Kühe
können hochintelligent, mäßig intelligent oder begriffsstutzig sein;
freundlich, besonnen, aggressiv, fügsam, erfindungsreich, stolz oder
schüchtern“. Der deutsche Kuhforscher Bert Tolkamp kam zu der Erkenntnis,
dass eine Kuh, die schon lange liegt, wahrscheinlich bald wieder aufstehen
wird. „Ich beobachte Kühe seit vielen Jahren“, meinte er, „deswegen kann
ich mit einiger Kompetenz sagen: Kühe können wirklich langweilig sein.“ Das
Verhalten seiner Untersuchungsobjekte sei „äußerst enttäuschend gewesen“.
Das Wesen unserer Kultur ist Wiederkäuen. Der Forscher hätte es lernen
sollen, dann könnte er sich wie die Kühe „aller schweren Gedanken, welche
das Herz blähn, enthalten.“ Das meinte jedenfalls Nietzsche.
26 Feb 2024
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Zoologie
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