# taz.de -- Die Wahrheit: Flugunfähige und flatterhafte Wesen | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (186): Fledermäuse und | |
> Engel haben zumindest die Flügel gemeinsam, bei allem was differiert. | |
Bild: Fledermaus als Baby und Albino lächelt einem Engel gleich | |
Der Renaissancekünstler Leonardo da Vinci hat – als Mittler zwischen Himmel | |
und Erde – Engel gemalt, die vollkommen flugunfähig sind. Das hat ihm aber | |
keine Ruhe gelassen, denn er hat weiter über die Flugfähigkeit nachgedacht. | |
Für seine Flugmaschinen hat er dann Fledermausflügel als Vorlage genommen, | |
wofür es laut der Biologin Hanna Björgaas gute Gründe gab, „denn dort, wo | |
die Finger der Vögel weit stärker zusammengewachsen sind, kann die | |
Fledermaus die Finger jedes Flügels unabhängig von den anderen bewegen“, | |
schreibt sie in „Das geheime Leben in der Stadt“ (2023). | |
Wie Leonardo und die Engelmaler vor und nach ihm dachte auch noch Otto | |
Lilienthal bei seinen Flugexperimenten, weil er ebenfalls eine „homomorphe | |
Konstruktion“ anstrebte, wie Hans Blumenberg das 1957 in seinem Aufsatz | |
über die „Nachahmung der Natur“ nannte. Es kam dann jedoch zu einem | |
Paradigmenwechsel: Spätestens mit den US-Luftfahrtpionieren, den | |
Gebrüdern Wright, reifte eine „Erfindung“ heran, die sich „von der alten | |
Traumvorstellung der Nachahmung des Vogelflugs freimachte und das Problem | |
mit einem neuen Prinzip löste“. Voraussetzung dafür war laut Blumenberg der | |
Explosionsmotor und, noch wesentlicher, „die Verwendung der Luftschraube“. | |
Solche „rotierenden Elemente“ seien „von reiner Technizität, der Natur | |
müssen rotierende Organe fremd sein“. | |
Das sind sie aber nicht: In ihrem „Leitfaden: Die fünf Reiche der | |
Organismen“ schreiben die Mikrobiologinnen Lynn Margulis und Karlene | |
Schwartz: „Während bestimmter Stadien ihres Lebenszyklus besitzen die | |
Zellen vieler Pflanzen und der meisten Tiere flexible, peitschenartige, im | |
Zellinneren verankerte Fortsätze – sogenannte Undulipodien, Flagellen bei | |
den Bakterien genannt. Die Schlagbewegung eines Undulipodiums wird durch | |
Umwandlung von chemischer in kinetische Energie erzeugt – einem ‚Drehmotor�… | |
gleich.“ | |
Auch beim Flügelschlag der Fledermäuse wird chemische in kinetische Energie | |
umgewandelt. Ebenso bei den Flugzeugen mit Explosionsmotoren. Die | |
gründliche Erforschung des Luftraums kam hierzulande nach dem Ersten | |
Weltkrieg in Gang – mit dem Motorflug-Verbot der Siegermächte. Die deutsche | |
Luftfahrt suchte und fand einen Ausweg: Fliegen ohne Motor – den Segelflug. | |
## Goldene Jahre der Aerodynamik | |
Allenthalben gründeten sich Segelflugvereine. Dies waren die goldenen | |
zwanziger Jahre der deutschen Aerodynamik. „Denn wo nur Luft ist und kein | |
Motor, da wird aus Fliegen reine Aerodynamik. Das erste Flugzeug der Welt | |
mit freitragenden, nicht verstrebten Tragflächen startete 1922 auf der | |
Wasserkuppe in der Rhön. Es ist direkt aus Aerodynamik konstruiert“, | |
schrieb der Kulturwissenschaftler Peter Berz in der taz. | |
In Göttingen wurde die zum Segelflug quasi dazugehörende Aero- und | |
Thermodynamik-Forschung ausgebaut. Segelflugzeuge sind Gleiter. In der | |
Tierwelt gibt es diese Fähigkeit mehrfach: unter anderem bei Flughörnchen, | |
bei Riesengleitern (Fliegende Lemuren genannt), Sugar Glidern | |
(Kurzkopfgleitbeutler), Ringbeutlern (Beuteltiere, die einen Greifschwanz | |
haben), ferner Fliegenden Fische, Schlangen, Fröschen und Eidechsen | |
(Drachenechsen genannt) … | |
Sie haben die physiologische Fähigkeit entwickelt, zum Beispiel von einem | |
Baum zu springen und zum nächsten rüberzugleiten, ihren Feinden | |
entschwebend. Flughörnchen und Flugechsen schaffen dabei Entfernungen bis | |
zu 60 Metern, Fliegende Schlangen bis zu 20 Metern. Die Fliegenden Fische, | |
die sich bei Gefahr torpedoartig aus dem Wasser schnellen und dann in der | |
Luft ihre flügelähnlichen Flossen ausbreiten, können auf diese Weise bis zu | |
180 Metern weit segeln. Flugfrösche können mithilfe ihrer großen Flughäute | |
zwischen den Zehen bis zu 20 Meter weit gleiten – an ihren Finger- und | |
Zehenspitzen haben sie Saugnäpfe entwickelt, mit denen sie an den Bäumen | |
wieder hochklettern können. | |
Die Fliegenden Schlangen können sich breit und flach machen. Flugechsen | |
haben eine lose Haut zwischen den Vorder- und Hinterbeinen, die sie | |
aufspannen können. Riesengleiter, Gleitbeutler und Flughörnchen breiten | |
ebenfalls ihre lockere Haut am Körper aus, die dann fast so wie die | |
Flughaut der Fledermäuse aussieht, nur dass sie behaart ist. Flughörnchen | |
und Gleitbeutler können mit ihrem buschigen Schwanz steuern. Riesengleiter | |
können sich zum Schlafen in ihre bepelzte Flughaut wie in eine Hängematte | |
legen. | |
## Perfekte Gleiter im Schlaf | |
Der Flug von Segelflugzeugen ähnelt nicht nur dem der Gleiter, sondern auch | |
dem all jener Vögel, die ihre Flüge an der Thermik ausrichten: Adler und | |
andere Greifvögel, aber auch Möwen und Mauersegler. Eigentlich können so | |
gut wie alle Vögel gleiten und tun das auch, aber der Mauersegler ist ein | |
perfekter Gleiter, dafür kommt er aber auf dem Boden nicht ohne Fremdhilfe | |
hoch. Wenn man ihn aufnimmt, muss man ihn zum Beispiel vom Dach eines | |
Hochhauses fallen lassen, damit er etwas Zeit hat und eine Thermik finden | |
kann, die ihn trägt. Die Mauersegler können sich als Zugvögel bis zu zehn | |
Monate nahezu durchgehend in der Luft halten. Sie schlafen und paaren sich | |
sogar im Flug. | |
Wenn es bei den Engeldarstellungen mit rechten Dingen zuginge, würden sie | |
wie Fledermäuse aussehen. Diese haben dafür anders als die Engel keine | |
Hände frei, denn ihre Flügel, die sich bei den Engeln auf dem Rücken | |
befinden, haben sich aus ihren Fingern der Hand und ihren Armen gebildet, | |
weswegen man sie mit den Flughunden zur einen Ordnung der „Handflügler“ | |
(Chiroptera) zählt, während die flugunfähigen Engel in neun Ordnungen | |
unterteilt werden. Erwähnt sei hier nur der „ehrliche“ Engel von Marc | |
Chagall, der nicht gen Himmel fliegt, sondern auf einer Leiter | |
hochklettert. | |
Ein Biologe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat | |
2007 ausgerechnet, welche Muskeln die Engel haben müssten, um fliegen zu | |
können. Er war dabei auf eine Engelsgestalt mit dünnen Vogelbeinen gekommen | |
und mit einer so muskelbepackten Brust, dass vorne ein großer Doppelbuckel | |
hervortreten würde. | |
Schon 1845 hatte der Berliner Arzt Rudolf Virchow die Engel in der Malerei | |
aus Sicht eines Anatomen kritisiert. Andere folgten, unter ihnen auch | |
Kunsthistoriker wie Julius Langbehn, der die „Flügelmenschen“ als der | |
„Wirklichkeit widersprechend“ kritisierte. Den Physiologen Sigmund Exner | |
hat dagegen die psychologische Frage interessiert, warum das Schweben der | |
Engel auf Bildern ihren Betrachtern, „obwohl es allen Naturgesetzen Hohn | |
spricht, gleichwohl nicht als unwahrscheinlich, falsch oder ‚unschön‘ | |
erscheint“. | |
Der Philosoph Hans Blumenberg bezweifelte grundsätzlich, „dass aus | |
wissenschaftlichen Mitteilungen für die Wahrnehmung gelernt wird, denn | |
schließlich geht für uns immer noch die Sonne auf und unter“. | |
12 Feb 2024 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
## TAGS | |
Biologie | |
Fledermäuse | |
Engel | |
Die Wahrheit | |
Biologie | |
Zoologie | |
Katzen | |
Tiere | |
Meeresbiologie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Heckenschwein mit Knopfaugen | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (188): Kaum ein heimisches | |
Vieh wird so geliebt wie der lärmige Igel, der „Tier des Jahres 2024“ ist. | |
Die Wahrheit: Die Vermuhung der Wiederkäuer | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (187): Kühe sind eben | |
nicht nur unanständig viel rülpsende und pupsende Wesen. | |
Die Wahrheit: Im Reich der pelzigen Partyretter | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (185): Was passiert | |
eigentlich in Katzencafés? Und wie vertragen die Miezen den ständigen | |
Kaffeeduft? | |
Die Wahrheit: Lockend krächzendes Kröck | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (184): Blässhühner tauchen | |
gern ab und anderswo wieder auf, wenn sie nicht vor sich hin brüten. | |
Die Wahrheit: Buntbarsche in der S-Bahn | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (183): Welt im Glas – die | |
stillen Aquariumtiere bergen unglaubliche Geheimnisse. |