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# taz.de -- Tod in der Geflüchtetenunterkunft Kusel: Niemand will schuld sein
> Der kurdische Geflüchtete Hogir Alay soll Suizid begangen haben, sagen
> Behörden. Freund*innen und Angehörige sind skeptisch und fordern
> Veränderung.
Bild: Noch sind viele Fragen offen. Mahnwache für Hogir Alay. Der junge Kurde …
Kusel taz Als im November die Leiche von Hogir Alay in einem Waldstück nahe
der rheinland-pfälzischen Kreisstadt Kusel gefunden wird, sind sich die
Zuständigen schnell sicher: Es war Suizid. Der junge Kurde lebte in der
Geflüchtetenunterkunft, auf deren Gelände das Waldstück liegt.
Immer wieder hatte sich der 24-Jährige über die schlechten Bedingungen in
seiner Unterkunft beschwert, offenbar ohne Erfolg. Die Ermittlungen zu
seinen Todesumständen wurden eingestellt. Doch Familie und Freunde wollen
sich damit nicht abfinden: Ihre Fragen seien noch nicht vollumfänglich
beantwortet worden. „Natürlich lassen wir das so nicht stehen“, sagt
Mukaddes Yenigün, Vertreterin der Initiative Hogir Alay.
Hogir Alay war im Februar 2023 aus politischen Gründen mit seiner Frau aus
der Stadt Kızıltepe im Südosten der Türkei nach Deutschland geflüchtet.
Kurd*innen wie er werden [1][unter Erdoğans Regierung verfolgt]. In
Deutschland beantragte Alay Asyl, er wurde in der Geflüchtetenunterkunft
Kusel untergebracht.
Die Bedingungen dort seien problematisch gewesen, berichten Angehörige
und Freund*innen, die sich zur Initiative Hogir Alay zusammengeschlossen
haben. Mehrfach habe der Geflüchtete sich aufgrund psychischer Belastungen
beschwert, beispielsweise wegen wiederholter Zimmerverlegungen. Zudem soll
er des Öfteren vom Sicherheitspersonal schikaniert und Übergriffen
ausgesetzt worden sein. Mehrmals habe er sich an die Heimleitung wenden
wollen, doch die vor Ort anwesenden Übersetzer*innen sollen sich
geweigert haben, seine Anliegen zu übersetzen, so die Initiative, denn dies
schädige den Ruf der Unterkunft.
## Wochenlang vermisst
Schließlich schrieb Alay eine E-Mail an das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (Bamf). Dieses antwortete ihm, für sein Anliegen seien die
Landesbehörden zuständig. Auf Nachfrage der taz schreibt das Bamf, man habe
Alay „informiert und ergänzend Informationen zu den zuständigen Behörden
sowie weiteren Beratungsmöglichkeiten aufgezeigt“.
Mit seiner Familie stand Hogir Alay in engem Kontakt, regelmäßig erzählte
er ihr von seiner Situation. Besonders zu seinem Vater soll er eine tiefe
Bindung gehabt haben. „Kein einziger Tag verging, an dem er seinen Vater
nicht anrief“, erzählt Mukaddes Yenigün. Entsprechend groß war die Sorge,
als Alay ab dem 11. Oktober 2023 nicht mehr an sein Handy ging und seine
Familie ihn nicht mehr erreichen konnte. Sein Bruder Şiyar Alay, der in
Österreich lebt, soll mehrfach die Polizei in Kusel angerufen und darum
gebeten haben, nach Hogir Alay zu suchen. Auf seine Bitte hin soll auch
Şiyar Alays Deutschlehrer mehrfach die Polizei kontaktiert haben.
Die Polizei Kusel wiederum gibt auf Nachfrage der taz an, vom Fall Hogir
Alay erst nach dessen Tod erfahren zu haben. „Bis dahin war die Person
nicht als vermisst gemeldet worden. Hinweise oder Anhaltspunkte, die für
einen Vermisstenfall sprechen, lagen der Polizei nicht vor“, heißt es in
der Antwort.
„Ich lache gerade aus Wut“, sagt Yenigün. „Wir haben ab dem 15. Oktober
Anruflisten, wo von Österreich aus sein Bruder zusammen mit einem
Deutschlehrer mehrfach mit der Polizei gesprochen und sie gebeten hat, eine
Vermisstenanzeige aufzunehmen. Es gibt auch Mailverkehr.“ Polizei und
Staatsanwaltschaft betonen in einer gemeinsamen Pressemitteilung von Anfang
Februar, es soll lediglich darum gebeten worden sein, „den Mann zu
informieren, dass er sich bei seiner Familie melden solle“.
## Zweifel an der offiziellen Version
Als die Ermittlungen eingestellt werden, wird Alays Leichnam in die Türkei
gebracht. Dort sollte eine Autopsie durchgeführt werden. Doch wegen des
schlechten Zustands der Leiche sei das nicht mehr möglich gewesen, habe der
Mediziner vor Ort bemängelt. So berichtet es die Initiative. Sie erzählen
weiter: Schon als Alay gefunden wurde, befand sich der Leichnam in einem
derart schlechten Zustand, dass man ihn nur durch sein Tattoo am Bauch
identifizieren konnte. Der Mediziner kommt zu dem Schluss, dass der genaue
Todeszeitpunkt nicht exakt ermittelt werden kann – er liege irgendwo
zwischen dem 17. Oktober und dem 4. November, als Alay gefunden wurde.
Da kommen der Familie erstmals Zweifel: Wie kann ein Mensch im Zweifel über
zwei Wochen dort hängen, ohne dass ihn jemand sieht? Warum wurde die Leiche
nicht früher entdeckt, obwohl sie sich auf dem Gelände der Unterkunft
befand? Vor allem ein Detail gibt ihnen zu denken: „Seine Füße berührten
fast bis zu den Knien den Boden“, sagt Yenigün. So ist es auch auf den
Fotos des Leichenfunds zu sehen, die der taz vorliegen. Die Mediziner in
der Türkei hätten der Familie gesagt, diese Höhe sei für einen Suizid zu
niedrig.
Die Initiative Hogir Alay fordert Aufklärung und Gerechtigkeit. „Unser
größter Wunsch ist, zu wissen, was mit Hogir passiert ist“, sagt Şiyar Alay
der taz. Sein Bruder habe „endlich frei und ohne Angst leben und arbeiten“
wollen. „Durch die ganzen Bedrohungen in der Türkei als Kurde aus der
eigenen Heimat weggehen zu müssen, um dann doch wieder tot zurückzukommen –
das war nicht das, was sich Hogir erträumt hatte.“
Durch ihren Rechtsbeistand und den öffentlichen Druck hatte die
Initiative zwischenzeitlich eine Wiederaufnahme der Ermittlungen
erreicht. Am vergangenen Donnerstag wurden diese abermals eingestellt. In
einer gemeinsamen Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Kaiserslautern
und des Polizeipräsidiums Westpfalz nennen die Behörden erneut Suizid als
Todesursache. Die Ermittlungen hätten „keine Anhaltspunkte für ein
Fremdverschulden“ ergeben. Alay habe sich „kurz vor seinem Tod am Ende
seiner Kraft“ gesehen, heißt es in der Mitteilung. Das gehe aus
Ermittlungen im persönlichen Umfeld und der Auswertung seiner
Handykommunikation hervor.
## Zu wenig Hilfsangebote
Wie konnte Alay in eine für ihn so aussichtslose Lage geraten? Diese Frage
führt unweigerlich zurück zu Alays Versuchen, etwas an seiner
Unterbringungssituation zu ändern. Das für Aufnahmeeinrichtungen zuständige
Integrationsministerium des Landes Rheinland-Pfalz verweist auf
Nachfrage auf das Beschwerdemanagementverfahren der Aufsichts- und
Dienstleistungsdirektion (ADD), „das sukzessive in den Einrichtungen
implementiert und weiterentwickelt“ werde, sowie auf den Einsatz externer
Ombudspersonen, die Sprechstunden anböten. Im Falle der
Geflüchtetenunterkunft Kusel habe eine solche Ombudsperson alle zwei Wochen
Sprechstunde.
Eine ehrenamtlich tätige Person könne die Beschwerden gar nicht vollständig
auffangen, kritisiert der Landesflüchtlingsrat. Der Sozialdienst des ADD
wiederum sei nicht unabhängig. Es brauche niedrigschwellige
Beschwerdestellen mit adäquaten Übersetzern, die mehrere Sprachen
beherrschten. Auch müsse ein Beschwerdemanagement Befugnisse haben, um
überhaupt Veränderungen bewirken zu können. Dies sei „unseres Ermessens zum
jetzigen Zeitpunkt nicht gegeben“, so der Flüchtlingsrat auf taz-Anfrage.
Diese Forderungen teilt auch die Linke-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger:
„Es wäre ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es in allen
Aufnahmeeinrichtungen unabhängig arbeitende und gut ausgestattete
Beschwerdestellen gäbe, an die sich Geflüchtete wenden könnten“, sagt sie.
Bünger fordert, dass langfristig die „menschenunwürdigen Massenunterkünfte
[2][durch dezentrales Wohnen]“ ersetzt werden.
Die Unterstützer*innen von Hogir Alay haben mittlerweile eine zweite
Initiative gegründet: Pena-Ger. Sie betreiben Social-Media-Kanäle auf
Instagram und Twitter, wo Geflüchtete Hilfe suchen können – bislang auf
Kurdisch, Türkisch und Deutsch. Viele Geflüchtete hätten sich anonym bei
der Initiative gemeldet und von ähnlichen Beschwerden wie Hogir Alay
berichtet, erzählt Mukaddes Yenigün. „Jeder davon könnte der nächste Hogir
sein, wenn wir nicht handeln“, sagt sie. Die Initiative möchte Gehör für
die Belange der Geflüchteten schaffen. Ihr Ziel: „Dass wirklich jemand
zuhört, Mensch zu Mensch, weil wir Menschen sind.“
12 Feb 2024
## LINKS
[1] /Tuerkei-vor-den-Wahlen/!5930731
[2] /Unterbringung-von-Gefluechteten/!5910573
## AUTOREN
Daniela Sepehri
## TAGS
Kurden
Unterbringung von Geflüchteten
Schwerpunkt Protest in der Türkei
Deutschland
Schwerpunkt Flucht
Hamburg
Jugendliche
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