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# taz.de -- Was alte Fotos erzählen: Diese Zeit vor Gender
> Wer sich als Kind sieht, erfährt: Es war die Zeit, bevor wir zu
> bestimmten Spielzeugen geschubst und für bestimmte Verhaltensweisen
> gelobt wurden.
Bild: Einfach hereinspringen, zur Not halt in der Unterhose
Es gibt ein Kindheitsfoto von mir, das ich sehr liebe. Ich stehe in
Unterhose in einer Art Tümpel, vielleicht ist es ein kleiner See, vor mir
ein Fass, das uns Hortkindern auf unserem Ausflug als Bootsersatz gedient
hat. Meine Frisur ist irgendwo zwischen [1][Vokuhila] und Michael J. Fox im
Film „Zurück in die Zukunft“.
Zum einen liebe ich dieses Foto, weil es von einem echten Kamerafilm
entwickelt wurde, wie man das in den Achtzigern eben so machte, und es
deswegen in Kodak-Farben seine Wirkung entfaltet. Das Foto hat diese
besondere Tiefe, bei der sogar Braun-, Beige- und Schlammtöne schön
aussehen.
Zum anderen liebe ich dieses Bild, weil es aus einer Zeit kommt, in der es
uns Kindern noch egal war, was wir anhatten. Wasser, in dem wir schwimmen
konnten? Einfach hereinspringen, zur Not halt in der Unterhose. Das große
Gendern, [2][das über die Kleidung passiert,] muss kurz danach gekommen
sein.
Umso mehr ist das Tümpelbild mit dem Fass heute zu einem Schatz geworden.
Im Gegensatz zur Erzählung vom Erwachsenwerden als exponenziell steigendem
Zuwachs von Freiheit verläuft in so mancher queeren Zeitrechnung die
Hinwendung zu anderen Gendermodellen genau in die andere Richtung.
## Unfassbar heilsam
Sie nimmt dann die Form einer [3][Rückkehr zum Wissen] der Kindheit an. Sie
wird zu einem Lernen von unserem jungen Ich. Sich zu erinnern, wie sie sich
anfühlte, diese Zeit vor Gender, die wir vielleicht nur kurz erlebt haben,
aber eben doch erlebt, kann unfassbar heilsam sein.
Wir erlebten sie, ja wir nahmen sie uns heraus, trotz des Babyblaus und des
Babyrosas, trotz des Hingeschubst-Werdens zu bestimmten Spielzeugen und
trotz des Lobs für bestimmte Verhaltensweisen.
Dieses Wiedererlernen, also ein wirkliches Wiedererlernen auf körperlicher,
motorischer, sinneswahrnehmender Ebene, kann ein ganzes Leben andauern. Ich
weiß zum Beispiel nicht, wann ich aufgehört habe, mich zu trauen, Anlauf zu
nehmen, um in der Luft ein Salto zu schlagen und anschließend auf einer
Matratze zu landen.
Stundenlang haben mein bester Freund und ich das im Hort gespielt. Seine
Zeit vor Gender hieß, die Dinge sanft zu betrachten, auf den Fußballen zu
laufen, seine Umwelt vorsichtig zu beobachten. Diese Vorsicht, nicht
unbedingt im Sinne von Angst, sondern im Sinne eines Respekts für andere.
## Männlichkeit braucht einen Platz in Queerness
Diese Empathie war es, die uns verband. Sie ist der Grund, warum
Männlichkeit für mich unbedingt einen Platz in Queerness hat und jede
feministische Vision sich fragen muss, was sie heute tun könnte, damit mein
Freund damals genauso hätte weitergehen können.
Ich muss wieder an die blau und rot gestreiften Unterhosen denken, die ich
in dieser Zeit immer mit Filzstiften zeichnete. Diese Unterhosen stapelten
sich neben Pullovern, Jeanshosen und Schirmmützen ungefaltet übereinander
bis an den Bildrand. So egal war mir Kleidung dann wohl doch nicht.
Parallel zeichnete ich kleine Bildergeschichten, auf denen
Reisevorbereitungen stattfinden. Auf mit Tesafilm zusammengeklebten
Notizzetteln sind in rotem Fineliner Schlauchboote gezeichnet. Darin liegen
Paddel und Taucherbrillen, in Beiboote sind Schlafsäcke und unzählige
Mitnehmbrötchen gepackt.
Das wird sie gewesen sein, die Ausrüstung, die wir zurück in die Zukunft
brauchten.
5 Feb 2024
## LINKS
[1] /Frisuren-im-Lockdown/!5751728
[2] /Gender-Bias-und-Kleidung/!5875141
[3] /Kinder-und-Genderrollen-in-ZDF-Doku/!5967967
## AUTOREN
Noemi Molitor
## TAGS
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Queer
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