# taz.de -- Die Wahrheit: Kein Kanzler bei Flutopfer Mümmel | |
> Trotz harter Öffentlichkeitsarbeit gehen Orte am Rande des Hochwassers in | |
> der Medienflut unter. Ein Deichbericht von exotischen Destinationen. | |
Bild: Stumme Zeugen der Flut: Gummistiefel | |
„Das nächste Mal schaffen wir es bestimmt“, gibt sich Ortsvorsteher Steffen | |
Schriefel zuversichtlich. So energisch, wie es der kniehohe Pegel der | |
Schorla im historischen Ortskern von Klöbau in der Göbener Börde zulässt, | |
schreitet der parteilose Bürgermeister in Gummistiefeln durch seine | |
überflutete Gemeinde. Hier nimmt er einen Sandsack von einem Wall, dort | |
löst er eine Türdichtung oder ein Schalbrett, das vor ein Parterrefenster | |
genagelt wurde, aber viel ausrichten kann der parteilose Lokalpolitiker | |
nicht. Der Schaden bleibt einfach zu gering für die Abendnachrichten. Eher | |
lustlos stochert ein Lokalreporter aus der Kreisstadt in der trüben Brühe. | |
„Menschen sind nicht zu Schaden gekommen“, notiert der Berichterstatter | |
ernüchtert. | |
Doch Schriefel ist ein Macher, ein Pragmatiker, der sich nicht so leicht | |
unterkriegen lässt. Auf die Schnelle zieht der Medienprofi für die Presse | |
das Flutopfer Mümmel samt Exklusiv-Interview mit der schwer traumatisierten | |
Halterin aus dem Hut. „Ich bin schwer traumatisiert“, bekennt Kristina (7) | |
unter Tränen, allerdings ist ihr Kaninchen bloß sehr nass geworden. | |
„Vielleicht holt es sich noch Kaninchenschnupfen“, hofft Optimist Schriefel | |
auf ein emotionales Finale. | |
Doch als der Blick des Bürgermeisters auf den kaum abgesackten Turm der | |
Pfarrkirche fällt, gefriert sogar sein dynamisches Lächeln. „Nach meinen | |
Berechnungen dürfte das Scheißding gar nicht mehr stehen“, murmelt er und | |
stampft wütend in den aufgeweichten Morast. „Das Video vom Einsturz wäre | |
viral gegangen“, vermutet der Bürgermeister. | |
Das Hochwasser ist Schriefels Projekt, sein Baby. Jahrelang hat er bei | |
Landes- und Bundesbehörden antichambriert, um Schutzmaßnahmen wie Deiche | |
und Rückhaltebecken zu schleifen. Mit dem eigenen Tiefbauunternehmen hat | |
Schriefel die Schorla in ein Betonbett gezwängt und die Flussauen zu | |
Parkplätzen versiegelt, bis jedem Klöbauer eine Stellfläche für 15,3 Pkw | |
zur Verfügung stand. | |
## Reporter in Gummistiefeln | |
Doch am Ende hat es wieder nicht gereicht, obwohl das wackere Flüsschen die | |
Samtgemeinde wunschgemäß unter Wasser gesetzt hat. Die Gummistiefelreporter | |
der großen TV-Sender haben ihre alarmierten Aufsager woanders in die | |
Mikrofone gesprochen. „Wir waren so nah dran!“, barmt Schriefel. „Beinahe | |
wäre der Kanzler-Heli bei uns gelandet!“ | |
Aber dann hat sich Bundeskanzler Olaf Scholz doch lieber nebenan beim | |
Hochwasser in Oberröblingen an der Helme filmen lassen. In Pöbla an der | |
Schimpfe machte wenigstens Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner | |
Haseloff seine Aufwartung, um mit einer begeisterten Bevölkerung | |
Beleidigungen auszutauschen. | |
Doch gewann in dieser Hochwassersaison vor allem die niedersächsische | |
Provinz an Aufmerksamkeit, die bislang zu den lebensfeindlichsten und | |
unbesuchtesten Landschaften weltweit gehörte. Nur durch ihren zeitweiligen | |
Untergang konnten | |
wie Rinteln, Dingsbums am Rübenberge oder Hodenhagen einem Publikum | |
außerhalb des norddeutschen Grünkohldschungels bekannt werden. Sogar die | |
Existenz eines legendären niedersächsischen Atlantis namens „Schwülper an | |
der Schunter“ wurde von der Landesregierung erstmals eingeräumt, auch wenn | |
der Ortsname die Grenzen von Glaubwürdigkeit und sprachlichem Anstand weit | |
überschreitet. | |
Beinahe flächendeckend lief das Flächenland in der unansehnlichen | |
norddeutschen Tiefebene voll, aus der Hannover nun wie ein besonders | |
misslungenes Atoll brutalistischer Bauart ragt. Zwischen Harz und Ems ist | |
Deutschlands größter Pop-up-Binnensee entstanden, der schon jetzt für | |
zahlreiche Freizeitbetätigungen wie Sandsackhüpfen oder Kiten benutzt wird. | |
Später sollen in der menschenleeren Flachwasserwüste Atombomben getestet | |
werden. | |
„Davon kann unsereins nur träumen“, gibt Ortsvorsteher Steffen Schriefel | |
zu, dessen Heimat ebenfalls ohne Sehenswürdigkeiten auskommen muss, sieht | |
man vom Museum zur Geschichte der Schweinebesamung in der DDR und der | |
dritthöchsten Kalihalde des Landkreises ab. Doch der ambitionierte | |
Bürgermeister will es im nächsten Jahr wieder versuchen. | |
Schon im Februar soll der Spatenstich für einen Thyra-Schorla-Kanal | |
erfolgen, der dem Südharz das begehrte Hochwasser abgraben und es nach | |
Klöbau umleiten soll. Die Mittel für diese Infrastrukturmaßnahme sind schon | |
bei der EU beantragt. | |
„In diesem Winter haben uns Aller, Leine und Oker nur ganz knapp | |
überrundet. Im Winter davor hatte die Kyll in der Eifel die Pegel vorn, und | |
2021 hat die Katastrophe an der Ahr natürlich alle anderen Bemühungen | |
überschattet. Aber wir geben nicht auf, der Klimawandel ist noch lange | |
nicht zu Ende.“ | |
## Nester im Rampenlicht | |
Mit seinen ehrgeizigen Flutplänen für die Göbener Börde steht Schriefel | |
nicht alleine. Viele Lokalpolitiker aus strukturschwachen Gegenden setzen | |
auf das Winterhochwasser, um ihre gottverlassenen Nester wenigstens ein | |
einziges Mal im Rampenlicht der Medien zu sehen. Es ist ihre einzige | |
Chance, denn Experten schätzen, dass 97 Prozent aller deutschen Orts- und | |
Flurnamen überregional bloß desinteressiertes Schulterzucken auslösen, | |
Flüsse und Gewässer kennt erst recht kein Schwein. | |
Im Giffelsteiner Ländchen beginnt das THW deswegen schon jetzt damit, die | |
Flüsse Schnakel, Ränfte und Sieper zu stauen, damit die malerischen | |
Fachwerkstädte Löpphausen, Knüchteln und Oberwreme vor laufenden Kameras | |
geflutet werden können. In Pöttscheidt, das im Schnütgenwald am | |
Zusammenfluss von Arft und Wuchte liegt, hat eine Bürgerinitiative die | |
örtliche Talsperre gekauft, um die Staumauer beim höchsten Pegelstand | |
möglichst publikumswirksam zu sprengen. | |
In Durlingen an der Schmalzach arbeitet man mit einem Shampoohersteller | |
zusammen, der auf einer tiefer liegenden Retentionsfläche neben dem Fluss | |
ein Werk betreibt – im naturgeschützten Hopfimoser Ried soll beim nächsten | |
Hochwasser die größte Schaumparty Europas gefeiert werden. | |
Geschätzt wird, dass wegen Klimawandels und Sabotage in der nächsten Saison | |
bis zu 30 Prozent der Landesfläche natürlichen oder forcierten Fluten zum | |
Opfer fallen könnte. Doch so unangenehm die Winterhochwasser in der | |
deutschen Provinz für die zahlreichen Betroffenen sein mögen, für | |
ehrgeizige „Stadt-Land-Fluss“-Enthusiasten sind sie ein exzellentes | |
Training. Allein die Kenntnis aller Schunter-Zuflüsse von Ohe bis Wabe | |
bringt einen uneinholbaren Vorsprung. | |
10 Jan 2024 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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