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# taz.de -- Gedenken an Corinna Tartarotti: Der vergessene Anschlag
> Vor 40 Jahren legten katholische Terroristen tödliches Feuer an eine
> Münchner Disko. Heute ist klar: Die Gruppe Ludwig war Teil eines
> Netzwerks.
Bild: Die Diskothek Liverpool nach dem Anschlag. Zehn Tage später bekannte sic…
Vom Münchner Hauptbahnhof sind es nur ein paar Schritte, Hunderte laufen
jeden Tag vorbei am Wettbüro und der Bar Bad Angels. Doch kaum jemand weiß
vom Terroranschlag auf die Schillerstraße 11a. Keine Tafel, keine
Bodenplatte. Nichts erinnert an das rechtsextreme Attentat vor genau 40
Jahren. An Corinna Tartarotti, die mit 20 Jahren Opfer der sogenannten
Gruppe Ludwig wurde.
15 Menschen sollen diese rechtskatholischen Extremisten getötet haben.
Mindestens. Schwule, Sexarbeiterinnen, Partygäste, „gefallene Priester“,
einen Sinto. Ein fanatischer Kampf mit Kreuz und Hakenkreuz, „mit Feuer und
Eisen“ für den „wahren Gott“, in München und in Norditalien. Doch wenn …
Rechtsextremismus in Deutschland und Europa die Rede ist, fehlt dieses
Kapitel meist. Mit München verbinden viele [1][das Oktoberfestattentat von
1980], das Morden des NSU in der Stadt und den [2][Anschlag auf das
Olympia-Einkaufszentrum 2016]. Der Ludwig-Terror aber [3][ist eine
Leerstelle]. Auf der Schillerstraße wie in der Geschichtsschreibung.
Linke Gruppen aus München wollen das ändern. Seit Jahren fordern sie eine
sichtbare Erinnerung an den Anschlag im öffentlichen Raum. Und: die
Überprüfung der damaligen Ermittlungen. Auch die Nichte Corinna
Tartarottis, die Hamburger Rechtsanwältin Nicoletta Tartarotti, sagt:
„Mord verjährt nicht. Wenn es neue Anhaltspunkte gibt, muss wieder
ermittelt werden.“ Es ist ein erster Erfolg der Aktivist:innen und
Angehörigen, dass die Stadt München jetzt ein offizielles Gedenken
angekündigt hat. 40 Jahre nach der tödlichen Nacht.
## München leuchtete
Zu Beginn der achtziger Jahre gilt München als Spaß- und Skandalhauptstadt
der Bundesrepublik. Rainer Werner Fassbinder und Hanna Schygulla senden von
hier aus filmische Schockwellen durchs Land, Mick Jagger feiert im P1 mit
einer Pfarrerstochter, Freddie Mercury in den Schwulenbars. Neu gewonnene
Freiheiten prägen diese Zeit für die einen, für andere ist es
„Sittenverfall“.
Am 7. Januar 1984 betreten zwei gut angezogene 24-Jährige die Diskothek
Liverpool in der Schillerstraße. Es ist 23.26 Uhr. Die Männer werfen zwei
mit Benzin gefüllte 20-Liter-Kanister in den Eingang des Clubs, der im
Keller liegt. Die Brandsätze explodieren, das Feuer erfasst die
Garderobiere Corinna Tartarotti. „Da stand diese junge Frau und brannte wie
eine Fackel“, sagte ein Gast [4][später der Abendzeitung].
Etwa 30 Gästen und Angestellten ist von Flammen und Rauch der Weg zum
Ausgang abgeschnitten. Einige fliehen durch eine Hintertür, andere werden
von der eintreffenden Feuerwehr durch ein kleines Küchenfenster gerettet.
Auch der ehemalige Fußballnationalspieler Rudi Brunnenmeier, der nebenan
eine Bar betreibt, rettet eine Person aus dem Feuer. Sieben Menschen werden
im Liverpool schwer verletzt, Corinna Tartarotti stirbt drei Monate nach
dem Attentat im Krankenhaus an schwersten Verbrennungen.
Es seien vermeintlich Randständige der Gesellschaft gewesen, die zum Ziel
der Gruppe Ludwig wurden, sagt Nicoletta Tartarotti. Menschen wie ihre
Tante, die als junge Frau in einem „anrüchigen“ Nachtclub jobbte. Die
Attentäter sind für die Anwältin „erzkonservative Katholiken, die nicht
akzeptieren wollten, dass Menschen ihr eigenes Ding machen, ihren eigenen
Weg gehen und anders leben wollten, nicht traditionell“.
## „Unsere Demokratie ist Ausrottung“
Anders als der Spiegel [5][1984 fälschlicherweise berichtete], verlor der
bekannte ZDF-Reporter Franz Tartarotti bei dem Anschlag nicht seine
Tochter, sondern seine Halbschwester. Und auch zu den Hintergründen der
Explosion gibt es damals Falschnachrichten. Dass es ein Attentat war, ist
zwar sofort klar. Doch Boulevardmedien und Polizei vermuten zunächst einen
Konflikt im Rotlichtmilieu. „Ein heißer Krieg um kalte Sex-Mark“, schreibt
die Abendzeitung am 10. Januar, der Münchner Merkur fordert die Polizei
auf, mit den „Wirten von Sex-Lokalen und sogar Prostituierten“
zusammenzuarbeiten. Die Parallelen zur NSU-Mordserie sind offensichtlich.
Auch hier ermittelte die Polizei zunächst gegen das Umfeld, von
„Döner-Morden“ schrieben nach 2005 viele Medien.
Wie beim NSU bringen auch 1984 erst die Terroristen die Behörden auf die
richtige Spur. Zehn Tage nach dem Brandanschlag bekommt die italienische
Nachrichtenagentur Ansa Post in Runenschrift. „Wir bekennen uns zum
pyrotechnischen Spektakel in München“, heißt es in dem Schreiben, in dem
sich die Täter selbst als Nazis bezeichnen. Und weiter: „Im Liverpool wird
nicht mehr gefickt.“ Darüber: ein Hakenkreuz, ein Reichsadler sowie der
Name „LVDWIG“.
Schriftbild und Inhalt des Bekennerschreiben sowie ein Wecker, den die
Mörder bewusst zurückgelassen haben, zeigen den Ermittelnden in München,
dass sich der Anschlag auf das Liverpool in die Mordserie der Gruppe Ludwig
in Norditalien einreiht.
Seit Jahren schon wurden dort Menschen „bestraft“, die der
religiös-politischen Ideologie, dem „Gesetz Ludwigs“, widersprachen. Ob der
Name Ludwig einem Buch des Schriftstellers Ignazio Silone entlehnt ist oder
auf einen heiliggesprochenen Kreuzritter verweist, ist noch immer unklar.
„Zweck unseres Lebens ist der Tod jener, die den wahren Gott verraten“,
steht auf einem Bekennerschreiben der Gruppe. „Unser Glaube ist Nazismus.
Unsere Gerechtigkeit der Tod. Unsere Demokratie ist Ausrottung“, lautete
ein anderer Slogan. Es ist ein Denken, das insbesondere in der rechten
Hochburg Verona verbreitet ist. Der Kreuzzugsspruch „Gott mit uns“ findet
sich nicht nur in Schreiben der Gruppe Ludwig, bis heute trägt ihn manch
rechter Fan des Fußballklubs Hellas Verona auf dem Shirt.
## Blutige Spur durch Norditalien
In Verona zünden die Ludwig-Terroristen 1977 den arbeitslosen Sinto
Guerrino Spinelli in seinem Auto an, sie erstechen den schwulen Kellner
Luciano Stefanato und den schwulen Heroinabhängigen Claudio Costa. In
Vicenza erschlagen sie die 51-jährige Sexarbeiterin Alice Maria Beretta mit
Axt und Hammer. Sie zünden den im Freien schlafenden Luca Martinotti an.
Mit zwei Hämmern töten sie die Mönche Mario Lovato und Giovanni Pigato.
Gegen einen der beiden war wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern ermittelt
worden. Dem Priester Armando Bison rammen die Terroristen einen
Maurermeißel und ein Kruzifix ins Genick. Dann reichen der Gruppe einzelne
Opfer nicht mehr.
Sechs Gäste ersticken beim Brandanschlag auf das Mailänder Sexkino Eros am
14. Mai 1983. „Eine Todesschwadron hat die Männer ohne Ehre
hingerichtet“, heißt es im Schreiben, mit dem die Gruppe Verantwortung
übernimmt „für den Scheiterhaufen der Schwänze“. Im Jahr darauf folgt der
Anschlag auf das Liverpool in München. Anfang März 1984 werden in der
Diskothek Melamare in Castiglione delle Stiviere der Mathematiker
Wolfgang Abel und der Chemiedoktorand Marco Furlan festgenommen. Als
Pierrots verkleidet, hatten die beiden Benzin auf der Karnevalsparty
verteilt.
Beide stammen aus der Oberschicht Veronas, wohin Abels Familie aus München
gezogen war. Sie kennen sich seit Schulzeiten, sind wohl hochbegabt. Die
Gruppe Ludwig in Wirklichkeit also nur zwei durchgeknallte Einzeltäter?
Diese Erzählung mag nach der Verurteilung der beiden 1987 die Gemüter in
Deutschland und Italien beruhigt haben, heute mehren sich die Hinweise,
dass da noch mehr ist.
Für die ersten fünf Morde wurde das Duo aus Mangel an Beweisen
freigesprochen. 2009 kamen Abel und Furlan auf freien Fuß. Medienberichten
zufolge hat Furlan 2018 in einer Audienz bei Papst Franziskus um Vergebung
für seine Taten gebeten. Wolfgang Abel beteuerte weiter seine Unschuld. Das
Benzin im Melamare? Für ihn nur ein Scherz. 2021 fiel Abel nach einem
Unfall in seinem Haus nahe Verona in ein bis heute anhaltendes Koma.
## Für verrückt erklärt, entpolitisiert
In widersprüchlichen Aussagen hatte Abel von der Gruppe Ludwig einmal als
„Milieu“ gesprochen, dann wieder konkret von vier oder fünf Mitgliedern.
Auch in München soll es wie bei anderen Anschlägen Hinweise auf einen
Dritten gegeben haben. „Ein Zeuge hat wohl ein Fahrzeug vor der Bar
gesehen, womöglich das Fluchtfahrzeug“, sagt Nicoletta Tartarotti. Die
Anwältin sieht Parallelen zum Oktoberfestattentat. „Es war eine Zeit, in
der Dinge nicht so gerne restlos aufgeklärt wurden, weil die Politik kein
Interesse daran hatte.“
Das sei nun nachzuholen. Tartarotti habe Akteneinsicht beantragt, bislang
aber nichts von den Behörden gehört. Auf Anfrage der taz schreibt die
Generalstaatsanwaltschaft München, dass dort seit Oktober 2023 geprüft
werde, „ob Ansätze für weitere Ermittlungen bestehen bzw. sich
Zusammenhänge zu weiteren Sachverhalten ergeben könnten“. Anlass für die
Prüfung seien Anklagen, die 2022 in Italien erhoben wurden, „gegen etwaige
Beteiligte bei den Straftaten des Furlan und Abel“.
In Italien berichteten Zeugen in den Prozessen zu den Attentaten anderer
rechter Gruppen von der Einbindung Abels und Furlans in die rechte Szene,
von Verbindungen etwa zur neofaschistischen Terrororganisation Ordine
Nuovo. Ein Aussteiger gibt sogar an, dass die beiden nur als eine Art junge
Strohmänner gedient hätten. In ihrer Jugend hatten Abel und Furlan schon
Kontakt zu den rechtsextrem-katholischen Christkönig-Kriegern.
Für die Aktivistin und Journalistin Lina Dahm und die Antisexistische
Aktion München ist es an der Zeit, wegzukommen von der Betrachtung Abels
und Furlans als psychisch auffälliger Sonderlinge. Von einer
jahrzehntelangen „Entpolitisierung“ rechter Taten durch die
Sicherheitsbehörden spricht Dahm.
## Nur auf Druck der Zivilgesellschaft
Waren es seit 2019 linke Gruppen, die mit Kundgebungen vor Ort an Corinna
Tartarotti erinnerten und Bezüge zu anderen rechten Tätern zogen, [6][stieg
kürzlich auch die Stadt München ein]. Eine [7][Veranstaltungsreihe] mit
Wissenschaftler:innen und Journalist:innen aus Deutschland und
Italien ist rund um den 40. Jahrestag angekündigt. Am Sonntag wird neben
dem Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) Kulturstaatsministerin Claudia
Roth (Grüne) erwartet. Auch Lina Dahm und Nicoletta Tartarotti wollen dabei
sein.
Das Kulturreferat hat außerdem einen Wettbewerb ausgeschrieben für ein
Gedenk-Wandgemälde. „Auch in den meisten norditalienischen Tatortstädten
erinnert bisher nichts an die Opfer“, sagt Lina Dahm. „Ohne eine aktive
Zivilgesellschaft ist es angesichts der aktuellen rechten Regierung auch zu
befürchten, dass das so bleibt.“
Die länderübergreifende Untersuchung und Erinnerung des Ludwig-Terrors
steht noch am Anfang. In München kann das Wandgemälde bislang nur temporär
an die Fassade des Tatorts projiziert werden. Auf Anfrage heißt es, die
Stadt verhandle noch mit dem Besitzer der Schillerstraße 11a.
6 Jan 2024
## LINKS
[1] /40-Jahre-Muenchner-Oktoberfestattentat/!5711825
[2] /Rechter-Terroranschlag-in-Muenchen-2016/!5945212
[3] https://www.nsu-watch.info/2020/12/longread-und-interview-aus-dem-bild-gefa…
[4] https://martinmaurer.eu/die-krieger-recherchematerial/
[5] https://www.spiegel.de/politik/einige-schlug-er-mitten-entzwei-a-5705fea9-0…
[6] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-rechter-terroranschlag-gedenk…
[7] https://wonderl.ink/@public-history
## AUTOREN
Stefan Hunglinger
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