| # taz.de -- Rechter Terroranschlag in München 2016: Einfach unsichtbar gemacht | |
| > Sieben Jahre nach dem rassistischen Anschlag in München porträtiert das | |
| > ZDF Überlebende. Lange verleugneten Behörden das rechtsextreme Motiv. | |
| Bild: Arbnor Segashi verlor seine Schwester beim rassistischen Attentat am OEZ … | |
| Wenn Arbnor Segashi in seinem Mercedes nachts durch das [1][Münchner | |
| Arbeiterviertel Moosach] fährt, scheint die Zeit stillzustehen. Regen | |
| prasselt auf die Windschutzscheibe, Straßenlichter ziehen flackernd am | |
| Fenster vorbei. | |
| Segashi hält vor einer Polizeiwache. „Genau hier war das“, sagt er. [2][Ein | |
| Polizist] liest eine Liste mit Namen vor. Segashi hört: Sabine, Can, | |
| Giuliano, Diamant. Sie sollen gestorben sein. Die Liste sei endgültig. Der | |
| Name seiner 14-jährigen Schwester Armela ist nicht dabei. Erleichtert fährt | |
| er nach Hause. Am nächsten Morgen erfährt Segashi, dass seine Schwester | |
| doch zu jenen neun Menschen gehörte, die am [3][22. Juli 2016 in München] | |
| erschossen wurden. | |
| Mit der Rückkehr in die Tatnacht beginnt die ZDF-Dokumentation „Einzeltäter | |
| – München“. In ihr begleitet der Regisseur Julian Vogel über mehrere Jahre | |
| hinweg zwei Familien, die im Jahr 2016 Opfer des rassistischen Anschlags am | |
| Münchner Olympia-Einkaufszentrum wurden. | |
| Da sind zum einen die Segashis. Der junge Arbnor, zum Zeitpunkt des | |
| Anschlags 21 Jahre alt, und seine Eltern Smajl und Nazmije. Vater Smajl, | |
| seit Jahrzehnten Busfahrer, kann nach dem Anschlag nicht mehr fahren. Zu | |
| sehr verfolgt ihn die Angst, im falschen Moment in Panik zu geraten und | |
| einen Unfall zu bauen. Ohne das Einkommen des Vaters gerät die Familie in | |
| finanzielle Schwierigkeiten. Zu ihrer Trauer kommen Briefe und Termine beim | |
| Amt hinzu. Also bricht Sohn Arbnor sein Studium ab und verfolgt einen lang | |
| gehegten Traum: eine eigene Bar. Für ihn der Weg zur finanziellen | |
| Unabhängigkeit der Familie. | |
| ## Die Genese des Versagens | |
| Bei den Leylas hat der Anschlag ebenfalls Spuren hinterlassen. Vater Hasan, | |
| Mutter Sibel und Bruder Ferit Ibrahim verloren den 14-jährigen Can. Wie die | |
| Segashis trauern auch die Leylas, doch wo bei den Segashis eine gewisse | |
| Resignation dominiert, hat bei den Leylas Wut die Oberhand gewonnen. Vater | |
| Hasan will sich nicht damit abfinden, dass der Anschlag in München kaum | |
| Beachtung findet. „Jeder soll wissen, warum mein Sohn getötet wurde“, sagt | |
| er. | |
| Julian Vogel begann 2018 mit den Dreharbeiten für die Dokumentation, zu | |
| einem Zeitpunkt, als der rassistische Anschlag offiziell noch als | |
| „Amoklauf“ galt. Die Hinweise auf eine politisch motivierte Tat sind schon | |
| damals erdrückend. | |
| Neun Opfer, acht Jugendliche, alle mit Migrationshintergrund oder Teil der | |
| Minderheit der Sinti und Roma. Erschossen in und um einen Münchner | |
| McDonald’s. Von einem Täter, der aktives Mitglied einer rechten Chatgruppe | |
| namens „Anti Refugee Club“ war und Schriften hinterließ, die Bild als | |
| „Nazi-Manifeste“ beschreibt. Ein Täter, der auf den Tag genau fünf Jahre | |
| nach dem Anschlag des Rechtsterroristen Anders Breivik zuschlug, dessen | |
| Foto er als sein WhatsApp-Profilbild nutzte. | |
| Doch die bayrischen Ermittlungsbehörden und Medien tun sich damals noch | |
| schwer, rechten Terror in der Tat zu erkennen. In kurzen Rückblenden | |
| rekonstruiert die Dokumentation die Genese dieses Versagens. | |
| Über ein Jahr nach der Tat sagt der bayrische Innenminister Joachim | |
| Herrmann (CSU) über den Täter: „Seine rassistischen Gedanken darf man nicht | |
| ausklammern. Aber ob man deswegen das jetzt insgesamt als | |
| rechtsextremistische Tat einstufen sollte, das scheint schon etwas gewagt.“ | |
| Und in der ARD-Talkshow „Maischberger“ erklärt die Kriminologin Britta | |
| Bannenberg das „rücksichtslose, kompromisslose Töten“ mit einer | |
| narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Andere Ziele habe ein Amokläufer | |
| nicht. Neben ihr sitzt sprachlos: Arbnor Segashi. | |
| In intimen Interviews schafft es Regisseur Vogel, die Gefühle sichtbar zu | |
| machen, die die jahrelange öffentliche Verleugnung der rechtsextremen | |
| Motive des Täters bei den Segashis und Leylas auslöst. Das unerfüllte | |
| Bedürfnis nach Anerkennung. Die Wut, die die Leylas packt, wenn so getan | |
| wird, als hätte es jedes Kind in Deutschland treffen können. Als wären | |
| nicht bewusst ihre Kinder, mit den dunklen Haaren und braunen Augen, | |
| ermordet worden. | |
| Stattdessen dominiert zwischen 2016 und 2019 medial das Narrativ eines sich | |
| von Ausländern gemobbt fühlenden psychisch kranken Täters. In diesem wird | |
| das rassistische Attentat zum verständlichen Racheakt. Die Opfer werden auf | |
| perfide Weise zu imaginierten Tätern. | |
| ## Im Internet radikalisierter rechter Täter | |
| Die Dokumentation ist mehr Porträt als Analyse, ein empathischer Blick auf | |
| den unmöglichen Versuch, einen Weg nach dem Tod des eigenen Kindes zu | |
| finden. Unterbrochen werden Interviews, Alltagsbeobachtungen und Momente | |
| des Gedenkens immer wieder von atmosphärischen Aufnahmen: Bilder von | |
| Moosacher Wiesen, auf denen Kinder spielen, Wohnblöcken, menschenleeren | |
| Turnhallen und Werksparkplätzen – eine fast meditative deutsche | |
| Alltagskulisse, die kaum vermuten lässt, welcher Kampf sich hinter ihr | |
| abspielt. Wie schwierig der Weg der Leylas und Segashis war, zeigt der | |
| Vergleich zum Anschlag in Hanau 2020. | |
| Die Anschläge von Hanau und München haben viel gemein. Jeweils neun Opfer | |
| mit Migrationshintergrund, ein im Internet radikalisierter rechter Täter. | |
| Doch wo sich die Bundesanwaltschaft bei Hanau direkt auf rechten Terror | |
| festlegte, redeten die Behörden in Bayern über drei Jahre lang den | |
| ideologischen Hintergrund der Tat klein. | |
| Der taz gegenüber erzählt Sibel Leyla davon, wie sie nie mit dem Tod ihres | |
| Kindes abschließen konnte. „Jedes Mal, wenn im Fernsehen wieder von einem | |
| Amoklauf gesprochen wurde, bin ich wütend geworden“, sagt sie. Allen | |
| Familien ging es damals schlecht. Den rechten Terror, gegen den sie sich | |
| hätten zusammenschließen können, gab es angeblich gar nicht. „Ich muss kein | |
| Philosoph sein, um zu sehen, dass das rechter Terror ist, wenn jemand von | |
| ‚ausländischen Untermenschen‘ spricht, die er ‚exekutieren‘ will“, s… | |
| Hasan Leyla am Telefon. | |
| Die Dokumentation zeigt neben Leid und Resilienz auch die Bruchlinien | |
| zwischen den Familien. So empört sich ein wütender Hasan Leyla über andere | |
| Familien, die in den Gesprächen mit der Verwaltung vor allem ihre | |
| Geldsorgen in den Vordergrund rücken, weil sie nach dem Anschlag | |
| arbeitsunfähig sind. Für ihn zähle nur Wahrheit und Gerechtigkeit. Dass er | |
| einer der wenigen ist, denen es gut genug ging, um überhaupt weiterarbeiten | |
| zu können, daran muss ihn seine Anwältin erinnern. | |
| Kurz nach dem rechten Terroranschlag in Halle 2019, bei dem ein im Internet | |
| radikalisierter Täter versuchte, eine Synagoge zu stürmen und anschließend | |
| zwei Menschen erschoss, lenken die bayrischen Behörden bei der Bewertung | |
| des Münchner Anschlags schließlich ein. Die Tat gilt heute offiziell als | |
| „politisch motivierte Kriminalität rechts“, wie es in Beamtendeutsch heiß… | |
| Mit der Gründung der Initiative „München erinnern!“ haben die Familien im | |
| letzten Jahr begonnen, sich aus ihrer Ohnmacht zu befreien. Gemeinsam mit | |
| den Angehörigen von Hanau und Halle spinnen sie ein deutschlandweites | |
| Netzwerk der Solidarität. Am 19. Februar dieses Jahres waren sieben der | |
| neun Münchner Familien in Hanau, um die Überlebenden am dritten Jahrestag | |
| zu unterstützen. Am 22. Juli wiederum werden viele Hanauer Familien in | |
| München sein. | |
| Gegen Ende der Dokumentation nimmt Hasan Leyla Emiş Gürbüz, die Mutter des | |
| in Hanau getöteten Sedat Gürbüz, in den Arm. Am Telefon sagt er der taz, er | |
| sei tieftraurig, dass Gürbüz dasselbe durchmachen müsse wie er und seine | |
| Frau. Aber sie sei nicht allein. | |
| 20 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mitsuo Iwamoto | |
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