# taz.de -- Jahrestag der Anschläge am OEZ München: 1.000 Puzzle-Teilchen | |
> Unpolitischer Amoklauf oder rechtsextremer Anschlag? Eine vierteilige | |
> Sky-Doku rekapituliert die tödlichen Schüsse im Münchner OEZ vor sechs | |
> Jahren. | |
Bild: Die Opfer des Anschlags in München 2016 | |
„Dieser 22. Juli. Ich versuche irgendwie, diesen Tag aus meinem Kopf | |
auszulöschen. Keine Chance“, sagt Hüseyin Bayri. Vor sechs Jahren tötete | |
ein 18-Jähriger neun Menschen am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, eine | |
vierteilige Sky-Doku erinnert nun daran. | |
Dass Bayri den Tag nicht aus seinem Kopf bekommt, liegt daran, dass er | |
damals so nah dran war, nur zwei Meter vom Täter entfernt. Dem 19-jährigen | |
Giuliano Kollmann beigestanden hat, bis er in seinen Armen gestorben ist. | |
Das hätte man furchtbar reißerisch inszenieren können. Per Reenactment oder | |
mit vor allem die eigene Empathie mit den Angehörigen in Szene setzenden | |
Presenter-Reportern – wie in der ein Jahr nach dem Verbrechen gesendeten | |
ZDF-Produktion „Schatten des Verbrechens“. | |
Dass Sky hingegen in der Lage ist, den angemessenen Ton zu finden, hat der | |
Sender bereits mit seiner True-Crime-Doku („Schwarzer Schatten“) über den | |
Serienmörder Niels Högel unter Beweis gestellt. Statt Off-Kommentar, setzt | |
Regisseur Johannes Preuss allein auf seine Talking Heads: Hinterbliebene, | |
Helfer vor Ort, Freunde des Täters, Experten, Politiker, Anwälte, | |
Polizisten und Journalisten (wie der SZ-Polizeireporter Martin Bernstein – | |
die Doku ist „in Kooperation mit der Süddeutsche Zeitung entstanden). | |
Insgesamt mehr als dreißig Zeitzeugen kommen zu Wort. | |
## Einen Abend lang im Ausnahmezustand | |
Wer damals das Geschehen am Bildschirm verfolgt hat, wird sich noch an den | |
Sprecher der Münchner Polizei, an Marcus da Gloria Martins erinnern, der | |
informieren sollte, obwohl er selbst nichts wusste: „Das müssen Sie sich | |
wirklich vorstellen, als ob Sie’n 1.000er-Puzzle lösen müssen; dummerweise | |
sind alle Teile weiß, und von außen schmeißt Ihnen auch noch jemand Teile | |
rein, die gar nicht zum Puzzle gehören.“ | |
Die Stadt war einen Abend lang im Ausnahmezustand. Die islamistisch | |
motivierten Anschläge in Paris und Nizza gerade erst geschehen. [1][Die | |
Bilder von Polizisten in Freizeitkleidung], aber mit MP5-Maschinenpistolen | |
in den Händen, gingen um die Welt. | |
2.300 Beamte waren an 73 vermeintlichen Tatorten in der Stadt im Einsatz. | |
Und dann entpuppte es sich als Einzeltat eines 18-jährigen Mannes. Ein | |
Amoklauf hieß es damals. Große Erleichterung. | |
## Es gibt keine einfachen Antworten | |
Es blieben die pausenlos klingelnden Handys der Opfer; fast alle: | |
Jugendliche, Kinder mit Migrationshintergrund. Die Polizisten durften die | |
Anrufe nicht annehmen. Der Vater von Giuliano Kollmann, Rudolf, erzählt, | |
wie unangemessen er das Auftreten und die Fragen der Polizisten empfunden | |
hat, als sie ihm die Nachricht vom Tod seines Sohnes überbrachten. Der | |
damalige Polizeipräsident erklärt die Interessenlage der Polizei. Die | |
Multiperspektivität ist das große Pfund der Doku, mit dem sie wuchert, | |
völlig zu Recht, ohne sich dabei eine der Positionen jemals zu eigen zu | |
machen. | |
[2][Auf komplizierte Fragen gibt es keine einfachen Antworten]. Ein | |
Journalismus-Student ist nicht etwa den Aufforderungen gefolgt, zu Hause zu | |
bleiben, sondern losgezogen: Hat er mit seinem Handy-Video von Polizisten, | |
die unbescholtene Bürger und Bürgerinnen, einige von ihnen tragen Kopftuch, | |
mit vorgehaltener Waffe zwingen, sich auf den Boden zu legen, Aufklärung | |
geleistet oder zur Panikmache beigetragen? | |
Die Folgen eins und drei liefern vor allem eine Chronologie der Ereignisse, | |
während es in den Folgen zwei und vier um die Hintergründe geht: Hat man | |
die tödlichen Schüsse nicht vielleicht etwas zu schnell als die gänzlich | |
unpolitische Tat eines psychisch gestörten Mobbing-Opfers abgetan? Und | |
darüber seine rassistischen Motive – seine Bewunderung für den Massenmörder | |
von Oslo und Utøya, Anders Breivik, dessen Pistolen-Modell er sich | |
besorgte – und seine Aktivitäten in rechten Netzwerken, auf der | |
Spiele-Plattform Steam – seine Kontakte zu dem späteren (2017) | |
Schulattentäter von New Mexico, William Atchison – vernachlässigt? | |
Der Anschlag von München lässt sich durch solche Fragestellungen nicht | |
ungeschehen, die Toten nicht wieder lebendig machen. Möglicherweise aber | |
lassen sich künftige Anschläge „eines neuen Tätertypus', dieses sozial | |
isolierten, aber virtuell vernetzten einsamen Wolfes“ (Florian Hartleb, | |
Extremismusforscher) verhindern. | |
21 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jens Müller | |
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