# taz.de -- Der Hausbesuch: Er sucht Risse im Spektakel | |
> Der Astrophysiker Christophe Kotanyi kann erklären, was die | |
> Situationisten der 60er Jahre wollten. Sie saßen bei den Eltern am | |
> Küchentisch. | |
Bild: In der Ecke am Kachelofen saß Christophe Kotanyis Lebensgefährtin am li… | |
Wer seine Gegner kennt, sei freier im Denken und Handeln, meint Christophe | |
Kotanyi. | |
Draußen: Vor der Haustür ragen riesige Pfeiler auf, die die Gleise der | |
Berliner Hochbahn tragen. Die mächtige städtische Infrastruktur verstellt | |
den Blick auf die Lutherkirche aus rotem Backstein auf der anderen Seite | |
der Straße. | |
Drinnen: Kotanyi wohnt im dritten Stock. Unterhalb des Fensters verlaufen | |
die Gleise. Im Minutentakt ziehen die gelben Metallschlangen vorbei. Das | |
alles bei ohrenbetäubendem Lärm. Das urbane Spektakel lenkt vom Wohnzimmer | |
ab, das einst auch das Arbeitszimmer von Kotanyis Lebensgefährtin war. | |
[1][Elisabeth Meyer-Renschhausen] starb vor eineinhalb Jahren, sie | |
hinterließ geschätzt 7.000 Bücher und unzählige Stapel an Manuskripten. | |
Beim Ordnen des umfangreichen Materials kommt er seiner Elise nun nahe. „Am | |
meisten vermisse ich sie aber, wenn ich Musik höre.“ | |
Geist: Elisabeth Meyer-Renschhausen war eine unberechenbare Denkerin, die | |
Nischen, die von kapitalistischen Maximen nicht besetzt werden können, | |
auslotete. Solidarische Ökonomie, Gemeinschaftsgärten, Allmenden. Diese Art | |
zu denken und die Welt zu sehen, war die Schnittstelle zwischen Christophe | |
Kotanyi und ihr. Denn er, einst Astrophysiker, dann Übersetzer, ist nicht | |
minder unangepasst. | |
Ungarn: Kotanyi wurde 1949 in Ungarn geboren. Die Familie wohnte mitten in | |
Budapest. „Wir spielten auf der Straße.“ Ansonsten seien die Zeiten | |
schlecht gewesen. „Es gab kaum was zu essen. Die Leute waren spindeldürr. | |
Was es doch gab, haben die Sowjets mitgenommen.“ Panzer, die um den Block | |
fuhren, hätten zum Alltag gehört. Es gab willkürliche Verhaftungen und | |
Misshandlungen. Die Eltern waren stalinkritisch, kommunismuskritisch, | |
kapitalismuskritisch. Seine Mutter sei extrem nervös gewesen, sein Vater | |
fast paranoid. Niemand habe mehr Kinder bekommen, sagt Kotanyi. Als seine | |
Mutter wieder schwanger war, wollte sie abtreiben. Dann starb Stalin. „Zur | |
Feier des Tages behalten wir das Kind“, entschieden die Eltern. „Meine | |
Schwester verdankt Stalin, diesem Diktator, der für den Tod von mindestens | |
20 Millionen Unschuldiger verantwortlich ist, ihr Leben.“ | |
Belgien: Nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes gegen die | |
sowjetische Besatzung 1956 geht sein Vater, ein von Kinderlähmung | |
gezeichneter Architekt, mit seiner Familie ins Exil nach Belgien. Dort | |
schließt sich der Vater den Situationisten an, den „Situs“, wie Kotanyi | |
sagt. Diese Gruppe aus Künstlern, Denkern, Architekten, die spontane, | |
subversive Aktionen durchführte und Manifeste verfasste gegen das | |
Weiter-so, sei dem Vater wie auf den Leib geschnitten gewesen. „Er kannte | |
alle.“ Alle, das sind in den Jahren, in denen es die Situationisten gab, | |
1957 bis zur Selbstauflösung 1972, so um die 70 Leute. Joseph Beuys war | |
stark von ihnen beeinflusst. „Mein Vater und er kannten sich. Beuys war | |
verrückt, aber mein Vater war auch nicht ohne.“ Weil der Vater alle kannte, | |
kannte der Sohn sie ebenfalls. In Alice Becker-Ho, die Frau des | |
Situationisten-Gründers Guy Debord, sei er schon als Junge verliebt | |
gewesen. „Die Situs waren eine wilde Bande. Promisk. Familie zählte nicht. | |
Meine Mutter konnte sie nicht leiden.“ | |
Die Situationisten: Diese Intellektuellen, die nicht nur die Linke, sondern | |
auch die Popkultur beeinflusste, seien die Ersten gewesen, die das Denken | |
von Marx aktualisierten, meint Kotanyi. Marx habe sich mit der Herrschaft | |
der Ware beschäftigt. Die Situationisten analysierten, dass der | |
Kapitalismus nicht mehr vom Warenfetischismus angetrieben werde, sondern | |
vom Spektakel. „Wir sind doch alle nur noch Schauspieler. Beim Einkaufen. | |
Im Autoverkehr. Im Parlament. Alles ist nur noch Spektakel und die Menschen | |
sind Statisten“, sagt er. Die Situationisten haben ihre Ideen in poetischen | |
Parolen verdichtet. „Arbeitet nie!“ ist so eine. Oder: „Unter dem Pflaster | |
liegt der Strand.“ Damit wollte man, erklärt Kotanyi, die Diktatur, das | |
Spektakel des Autoverkehrs stören. Nachdem die Parole auf Wände in Paris | |
gesprüht worden war, hätten Leute nachts das Pflaster des Boulevards Saint | |
Michel aufgerissen. „Sie haben die Parolen verstanden.“ | |
Der Riss: „Die Situationisten wollten nicht die Macht im Staat, sondern die | |
Macht im Alltag zurück.“ Mit dieser Forderung hätten sie maßgeblich die | |
Studentenrevolten in Paris ab Mai 68 beeinflusst. Die Studierenden gingen | |
nicht mehr in die Vorlesungen, sondern besetzten die Hörsäle und sprachen | |
über alles. „Was ist Alltag? Nicht dass ich ein Buch schreibe, sondern dass | |
wir über interessante Sachen reden.“ Die Kulturindustrie entfremde uns von | |
uns selbst. Deshalb hätten [2][die Situationisten] auch nie definiert, was | |
sie eine Situation nannten. „Sie ist ein Riss im Spektakel“, erklärt | |
Kotany. Als Kind hätte er die Ideen der Situationisten aufgesogen, ohne sie | |
zu verstehen. „‚Lass‘“, sagte meine Mutter zu meinem Vater, die Kinder | |
verstehen es nicht.' ‚Jetzt nicht, aber später‘, antwortete der.“ | |
Die Gegner: Solchermaßen durcheinandergebracht in der Kindheit, habe er | |
dann Physik studiert. „Ich wurde von den Situs beauftragt, die Gegner | |
kennenzulernen. Denn Wissenschaft ist auch Spektakel.“ Die Physik sei | |
faszinierend, aber er wollte eigentlich kein Physiker sein. „Als Generation | |
nach Hiroshima wussten wir, Physiker sollen Waffen bauen.“ Die Astrophysik | |
schien ein Ausweg. Eine Zeitlang arbeitete Kotanyi in Sternwarten rund um | |
den Globus, erforschte schwarze Löcher. „Die Natur weiß Dinge, zu denen wir | |
unfähig sind.“ Kernfusion etwa. „Kernfusion, das ist die Sonne, und | |
Kernspaltung die Bombe.“ Als die Astrophysik unter Ronald Reagan ab 1985 in | |
den Fokus der Kriegsführung rutscht, Stichwort: Krieg der Sterne, gibt er | |
den Beruf auf. „Ich bin hiroshimatraumatisiert.“ Ob er keine Angst habe, | |
vor dem Nichts zu stehen, habe eine Kollegin damals gefragt. „Doch, schon.“ | |
Seine Ehe sei kaputtgegangen daran. | |
Der Kreis: Bald nachdem er die Astrophysik aufgibt, fällt mit der Wende der | |
Eiserne Vorhang. Kotanyi geht nach Ungarn zurück, hält sich mit der | |
Übersetzung von Bedienungsanleitungen für Traktoren über Wasser. Und er | |
bekommt endlich Zugang zu den Schriften ungarischer Philosophen, von denen | |
sein Vater beeinflusst war und die von ihrem Denken her die Vorläufer der | |
Situationisten waren. Dass Kotanyi deren Schriften jetzt übersetzt und | |
kommentiert, schließt den Kreis. Im Laufe dieser Studien gerät er nach | |
Berlin und lernt seine Elise kennen. | |
Verbundenheit: Die zwei haben sofort gemerkt, dass sie seelenverwandt sind. | |
Sie sprach von [3][Gemeinschäftsgärten] wie von einem Riss im Getriebe | |
kapitalistischer Verwertungslogik. Die Gärten werfen keinen monetären | |
Gewinn ab, dienen dem Leben und nicht der Wirtschaft. Kotanyi hat das | |
sofort in sein Denken übersetzt: „Gemeinschaftsgärten sind eine Situation, | |
die sich dem Spektakel verweigert.“ | |
Synthese: In Berlin schafft es Kotanyi, die verschiedenen Fäden seines | |
Lebens zusammenzuknüpfen: das situationistische Denken, das ihn geprägt | |
hat, die Suche nach dem Riss im Spektakel und die Liebe. Selbst seine | |
Kenntnis der Physik und Mathematik ist hilfreich. Die braucht, wer den | |
Kapitalismus kritisieren will. Denn „das Digitale ist das mächtigste | |
Herrschaftsinstrument des Kapitalismus“, sagt er. „Das Smartphone hat | |
nichts mit Smartsein zu tun, es ist reines Spektakel. Multimedia ist das | |
totale Spektakel, ein totaler Rausch. Ich nenne es nicht künstliche | |
Intelligenz, sondern künstliche Dummheit.“ | |
Der Feind: Kotanyi hat Seminare gegeben an der Berliner Volksbühne zur | |
digitalen Diktatur. „Das Digitale ist ein kaltes Rauschmittel. Rauschmittel | |
sind eigentlich heiß.“ Kotanyi sagt wunderbare Sätze. Keiner soll hier | |
ausgelassen werden. Auch dieser nicht: „Wenn ich Fantasie und Wirklichkeit | |
nicht mehr unterscheiden kann, das ist Rausch.“ Kino sei ein Beispiel. | |
„Rausch ist das ewige Jetzt. Aber wir brauchen auch Rausch. Die Welt ist so | |
hart.“ Rausch werde oft kriminalisiert im Kapitalismus. „Dabei arbeitet | |
Kapitalismus selbst mit Rausch. Ich kann das sagen, weil ich den Feind | |
kenne.“ | |
6 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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