# taz.de -- Sensorische Barrieren im Supermarkt: „Stille Stunde“ reicht nic… | |
> Supermärkte reduzieren einmal wöchentlich für zwei Stunden den Lärm. Das | |
> soll Autist:innen und anderen reizoffenen Menschen den Einkauf | |
> erleichtern. | |
Bild: Grelles Licht, Scanner-Piepen, Dudelmusik: Einkaufen ist für reizoffene … | |
Eine „stille Stunde“, verspricht ein Supermarkt am Bremer Stadtrand ab | |
sofort. Immer am Mittwochmorgen zwischen 8 und 9 Uhr soll es dort besonders | |
ruhig zugehen, „kein Piepen an der Kasse, kein Marktradio, keine | |
Warenverräumung“, auch das Licht würde gedimmt. Das ermögliche „reizarmes | |
Einkaufen“ und für alle den Einkauf als „positives Erlebnis“, wie es auf | |
der Homepage heißt. | |
[1][Solche „stillen Stunden“] richten seit vergangenem Jahr deutschlandweit | |
immer mehr Supermärkte ein, nicht immer in Randzeiten wie in Bremen und | |
meistens für zwei Stunden. In Hannover gibt es ein Geschäft, in dem | |
dienstags von 13 bis 15 Uhr kein Scanner-Piepen zu hören sein soll, in | |
Greifswald dienstags zwischen 18 und 20 Uhr. | |
Dahinter steht die Erkenntnis, dass es manchen Menschen schwerer als | |
anderen fällt, Sinneseindrücke auszublenden. Es geht dabei nicht um eine | |
überwindbare „Empfindlichkeit“, sondern um neurologische Unterschiede. Wer | |
sehr viele Reize auf einmal verarbeiten muss, verbraucht auch sehr viel | |
Energie. Das kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass jemand nach einem | |
Einkauf physisch und psychisch so überfordert ist, dass er oder sie | |
zusammen bricht. Betroffen sind – in unterschiedlichem Schweregrad – vor | |
allem [2][Menschen aus dem Autismus-Spektrum]. | |
Als besonders „reizoffen“ gelten auch Personen mit einer | |
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sowie Menschen, die | |
aufgrund von Krankheit oder Überlastung anders auf Sinneseindrücke | |
reagieren als gewöhnlich oder einfach immer schon mehr wahrgenommen haben | |
als der Durchschnitt – ohne dass dies als krankheitswertig gilt. | |
## Lärm ist nur eine Kategorie | |
Das Konzept der stillen Stunde bekannt gemacht hat in Deutschland [3][ein | |
Verein aus Rheinland-Pfalz], der im September dafür vom Spiegel mit dem | |
„Social Design Award“ ausgezeichnet wurde. Supermärkte sind für den Verein | |
nur ein Beispiel dafür, wo sensorische Barrieren abgebaut werden müssen, um | |
allen die uneingeschränkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu | |
ermöglichen. | |
Das wird als Inklusion bezeichnet – und genau das ist die stille Stunde | |
nicht. Denn Inklusion bedeutet, dass die Welt so gestaltet wird, dass sie | |
immer für alle zugänglich ist – und nicht einmal in der Woche für zwei | |
Stunden. | |
Ein Unternehmen, das Inklusion ernst nimmt, würde sich nicht darauf | |
verlassen, dass Filialleiter:innen verstehen, [4][wie Autist:innen | |
die Welt wahrnehmen]. Sondern in Supermärkten grundsätzlich auf Musik und | |
Werbung verzichten und für leise brummende Kühlgeräte und Lüftungen sorgen. | |
Dasselbe gilt übrigens für Schulen und Kindergärten, in denen es immer zu | |
laut ist – worunter alle leiden, wie Untersuchungen zur Gesundheit von | |
Kindern und Pädagog:innen zeigen. | |
Lärm ist dabei nur eine Kategorie, diejenige, die am einfachsten zu messen | |
ist, aber auch bei visuellen Reizen und Gerüchen ist Luft nach oben – etwa | |
in öffentlichen Verkehrsmitteln. | |
Mit einer stillen Stunde ist es nicht getan. | |
26 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Wahrheit/!5968101 | |
[2] /Expertin-ueber-Klischees-zu-Autismus/!5923006 | |
[3] https://www.stille-stunde.com/ | |
[4] https://www.srf.ch/news/panorama/autismus-und-beziehung-ich-weiss-ich-sollt… | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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