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# taz.de -- Die dunkle Seite der belarussischen Seele
> Er sei „Orwellianer“, sagt der belarussische Künstler Sergey Shabohin
> über sich. Politische Utopie, Dystopie und gesellschaftliche Prozesse
> sind die Hauptthemen seiner Werke
Bild: Shabohins Bücher, die keine gewöhnlichen Bücher sind
Von Semion Radiwil
Sergey Shabohin zeigt auf zwei Regale. Doch darin stehen keine gewöhnlichen
Bücher. Die zehn Bände belarussischer Literatur sind aus Holz, grau
lackiert und schwarz beschriftet – eine neue Arbeit des belarussischen
Künstlers. Die Serie trägt den Titel „Atlas tektonischer Landschaften“.
„Der Beginn der russischen Invasion in der Ukraine war nach der Annexion
der Krim 2014 ein zweiter großer Schock. Für mich war es der vierte, wenn
man die Pandemie und die Proteste in Belarus 2020 mitzählt. Damals habe ich
mit einem neuen Arbeitszyklus begonnen. Es geht darum, die Neuaufteilung
der Welt am Beispiel unserer Region neu zu denken“, sagt Shabohin. 2020
waren in Belarus Zehntausende wochenlang auf die Straßen gegangen, um gegen
die gefälschte Präsidentenwahl am 9. August zu protestieren.
„Historisch gesehen ist die gesamte belarussische Literatur auf
Traurigkeit, Tragödie und Schmerz aufgebaut. Entsprechend lauten die Namen
der Bände: „Trauer zerstört“, „Der Nebel ist stickig“, „Leiden
unterdrückt“, „Die Sorge nagt“, „Übelkeit packt“…, erzählt Shabo…
Belarussen würden sehr subtil die Schattierungen der dunklen Seite der
Seele unterscheiden. Schattierungen von Schmerz. Dies werde „schwarze
Galle“ genannt und sei eine Übersetzung aus dem Griechischen.
Der 1984 geborene Künstler bezeichnet sich als „Orwellianer“. Die Themen
politische Utopie, Dystopie und gesellschaftliche Prozesse nehmen in seinen
Werken einen zentralen Platz ein.
„Als ich im Kindergarten war, kamen die Deutschen und brachten uns einen
Haufen Geschenke. Ich habe Filzstifte und ein Buch über Fische bekommen.
Wir haben die Fische in der Gruppe gezeichnet, meine waren die besten. Mein
Geheimnis war, dass ich gelernt hatte, die Konturen mithilfe von Glas zu
zeichnen. Von da an habe ich immer wieder gezeichnet. Als ich älter wurde,
ging ich auf eine Kunstschule“, sagt Shabohin. Nach seinem Schulabschluss
wurde er an der belarussischen Akademie der Künste von Belarus zum Grafiker
und Illustrator ausgebildet.
Zu Shabohins Arbeiten gehören auch Collagen. Sie bestehen aus
Zeitungsausschnitten und Fotos bzw. Zeitungsausschnitten und Postkarten.
Ein Foto der zerstörten südukrainischen Stadt Mariupol ist mit einer
Postkarte kombiniert, die einen Sonnenuntergang zeigt. Das Motiv stammt von
Archip Kuindschi (1841–1910). Er wurde in Mariupol geboren und vor allem
durch seine Landschaftsmalereien bekannt. Besonders bei den Romantikern sei
jede Landschaft politisch, erläutert Shabohin. Kuindschi habe die
ukrainische Landschaft Mariupols gemalt, weil er dort gelebt habe.
„Die Annexion der Krim 2014 war ein Schock. Eine Freundschaft zwischen
Russland, der Ukraine und Belarus auf Augenhöhe, das ist eine Illusion“,
sagt Shabohin und erzählt von einem Hügel an der Kreuzung der drei Grenzen
dieser drei Länder. Der Hügel wird „Hügel der Freundschaft“ oder auch �…
Schwestern“ genannt. Zu diesem Ort gibt es ein Video, das Shabohin in einem
Wandbild verarbeitet hat.
„Ich habe diesen Hügel als Kuchen dargestellt, der dritte Teil wurde
abgeschnitten und beiseite geschoben“, erklärt der Künstler. Die drei Teile
könnten zu einem Teil kombiniert werden. Das sei ein Minimodell dieses
Hügels. Welches Land hier als abgeschnittener Teil dargestellt werde, sei
nicht festgelegt. Dies sei Abbild der Tatsache, dass diese Schwesternschaft
nicht existiere, nicht mehr existieren könne.
2016 ging der Künstler nach Polen. Die schmerzhafte Entscheidung, sein Land
zu verlassen, treibt ihn um. Ihr ist eine ganze Reihe von Arbeiten
gewidmet. Seit 2020 ist Sergey Shabohin nicht mehr nach Belarus gereist.
Mittlerweile hat er ein großes Archiv angelegt, der Titel lautet „sozialer
Marmor“. Als belarussische Sicherheitskräfte die Demonstranten auf den
zentralen Straßen von Minsk auseinander getrieben hatten, habe es so
ausgesehen, als hätten die Menschen resigniert. Dies sei aber nicht der
Fall gewesen. „In diesem Moment habe ich beschlossen, diese Stimmen und
Hoffnungen zu bewahren. 20 Tage saß ich vor einer Wand aus Kunstmarmor.
Dies ist eine Art chinesischer Folie mit Graffitis auf sowjetischem Marmor
in der Minsker U-Bahn. Für mich ist dies das Bild der belarussischen
Regierung, das auf dem Bild des sowjetischen Marmors selbst basiert.“
Dann passierte Folgendes: Shabohin saß 20 Tage lang an einem Tisch im
Zentrum von Berlin. Hinter ihm war eine Wand, die mit demselben
chinesischen Folien bedeckt war. Jeden Tag sprach er mit Menschen aus
Belarus und über Belarus. Diese Interviews tippte er ab und klebte die
Dokumente im DIN-A4-Format an die Wand. „Nach und nach ist die Wand zu
einem Gesamtarchiv des belarussischen Widerstands geworden. Ich möchte
diese Informationen als Katalog veröffentlichen“, sagt Shabohin.
Georgien und die Ukraine seien von Russland angegriffen worden, Belarus
stehe unter russischer Besatzung. Aus diesem Grund habe er begonnen, sich
mit Depressionen, Melancholie und dieser „schwarzen Galle“ zu beschäftigen,
die man nicht aus sich herausreißen könne. Hat er Heimweh? „Natürlich, sehr
sogar. Seit drei Jahren habe ich meine Eltern nicht mehr umarmt. Die
engsten Verwandten und Freunde nicht sehen zu können, das übersteigt meine
moralischen und geistigen Möglichkeiten.“
29 Nov 2023
## AUTOREN
Ihar Dzemiankou
Barbara Oertel
## TAGS
Osteuropa - ein Gedankenaustausch
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Belarus
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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