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# taz.de -- Geflüchtete und Scham: Das Gerechtigkeitsparadoxon
> Besonders viel haben wir den Flüchtlingen nicht zu bieten, zeigt ein
> Besuch am Berliner Tempelhofer Feld. Woher kommt dann der Neid?
Bild: Containerdorf als Unterkunft für Geflüchtete auf dem Flugfeld Tempelhof…
Neulich spazierte ich mit G. am Abend an den Hangars auf dem Tempelhofer
Feld entlang, die Sonne stand tief. Hinter dem Zaun, auf dem Vorfeld mit
den Wohncontainern, spielten zwei Kinder, ein Hund lief umher. Die
Hochbeete sind inzwischen bepflanzt, stellte ich fest. „Verrückt, dass die
Wohncontainer auf dem Vorfeld hier inzwischen schon als Privileg gelten
gegenüber den Schlafkabinen in den Hangars“, sagt G..
Die Wohncontainer bestehen aus drei Modulen, zwei kleine Wohnräume mit
jeweils bis zu zwei Doppelstockbetten, dazu ein Modul mit Herd, Dusche und
Klo. Im Fernsehen, erzählt G., sei neulich berichtet worden, dass es die
Ukrainer:innen in diesen Wohncontainern doch besser hätten als die
Syrer:innen in den engen Schlafräumen im Hangar 2 und 3. Die
Bewohner:innen im Hangar hingegen müssen sich Gemeinschaftsküche und
Sanitärräume mit vielen anderen teilen.
„In der Notunterkunft in Tegel sollen demnächst 7.000 Leute wohnen. Da sind
Ukrainer:innen inzwischen schon wieder abgereist zu ihren ausgebombten
Häusern in Charkiw, weil sie hier weder eine Wohnung noch einen Schulplatz
für ihre Kinder fanden“, berichtet G..
[1][So viel haben wir also gar nicht zu bieten.] Vor acht Jahren habe ich
in der Notunterkunft im Flughafen Tempelhof in der Kleiderkammer
ausgeholfen. Ich erinnere mich, dass ich einem älteren Syrer ein Paar
ausgelatschte Sneaker über den Tisch reichte, weil Secondhand-Männerschuhe
leider immer ausgelatscht sind, sonst werden sie nicht abgegeben. Dieser
entsetzte Blick des Mannes, der sehr gut Englisch sprach. „An mein
Schamgefühl erinnere ich mich noch heute“, sage ich zu G., als ich ihm
davon erzähle.
„Das Leid der Welt kommt hierher“, meint G., „vor unsere Haustür, vor
unsere Nase. Deswegen die Scham“. „Aber wenn Mütter mit ihren Babys in
lebensgefährliche Boote steigen auf der Flucht, so zwingt sie doch keiner
dazu. Das ist doch unverantwortlich“, gebe ich zu bedenken.
## „Die tragen Gucci“
„Das ist dein Gerechtigkeitsparadoxon“, sagt G., „gerade Leute, die selbst
ein starkes Gerechtigkeitsempfinden haben, neigen dazu, dann, wenn sie sich
ohnmächtig fühlen, die Schuld den Opfern zuzuschieben. Ist wissenschaftlich
erwiesen“. Das stimmt, [2][manches dreht sich] bei meinen Bekannten in
meiner Bubble. Ist auch etwas unheimlich. S. zum Beispiel, Linke-Wählerin,
Grundsicherungsempfängerin, stänkert seit Kurzem gegen die Ukrainerinnen,
„die sind immer super geschminkt, die tragen Gucci. Wer gar nicht so arm
ist, sollte nicht zur Tafel gehen“, empört sie sich. Und P., berentet, in
der Schule als Lesehelfer ehrenamtlich tätig, erklärt plötzlich, dass „es
doch nur die Starken schaffen, über die Fluchtwege hierherzukommen. Die die
Schleuser zahlen können. Das ist doch auch nicht gerecht“.
„Mit Asylpolitik kannst du immer nur Wenigen der vielen Leidenden helfen“,
meint G., „das muss man akzeptieren“. G. hat mal eine Bürgschaft geleistet
und Spenden akquiriert, so dass eine syrische Familie in Deutschland
zusammenkommen konnte. Doch kürzlich ist er bei Pro Asyl ausgetreten, weil
„es unehrlich ist, nicht über Begrenzungen zu reden. Das heißt ja nicht,
dass man das Asylrecht abschafft“, sagt er. Ich empfinde inzwischen
genauso.
Die Sonne ist verschwunden. Die Kinder schauen zu uns herüber. Was die über
uns denken? Wir könnten mit ihnen reden, wäre nicht dieser Zaun um das
Containerdorf.
18 Oct 2023
## LINKS
[1] /Fluechtlingsunterbringung-in-Berlin/!5958249
[2] /Besuch-in-Kassel/!5960606
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
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Geflüchtete
Scham
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Notunterkunft Tempelhof
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Schwerpunkt Flucht
Fachkräftemangel
Bürgergeld
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