# taz.de -- Comic über Ostberlin zur Wendezeit: Im Westen so bunt | |
> Sandra Rummlers Debütcomic „Seid befreit“ übers Aufwachsen in der DDR u… | |
> zur Wendezeit erzählt von Befreiung und Entwurzelung zugleich. | |
Bild: Ostberlin war farblos und der Rest bunt, selbst die grauen Tauben | |
„Alles so schön bunt hier!“, [1][singt Nina Hagen] über die BRD in „Ich | |
glotz TV“, einem Song, der sich auf ihrem 1978 erschienen Debütalbum | |
befindet. Ähnlich empfindet es die 13-jährige Mo in dem Comic „Seid | |
befreit“, als sie, von Eltern und Schwester begleitet, im Herbst 1989 | |
erstmals durch West-Berlin laufen kann: „Menschenmassen drängten sich durch | |
die Straßen, überall blinkte und leuchtete es. So viele Geschäfte! Wir | |
saugten alles in uns auf.“ Es ist dann fast zu viel des Guten: „Erschöpft | |
von den vielen Eindrücken, war ich froh, in den dunklen und leeren Teil | |
Berlins zurückzukehren.“ | |
In ihm, in einer alten Mietskaserne, die direkt neben der Mauer steht, | |
wächst Mo auf. Die Straße ist Sperrgebiet; außer von denen, die dort | |
wohnen, darf das Haus nur mit Genehmigung betreten werden: „Manchmal hörten | |
ich und meine jüngere Schwester in unserem Kinderzimmer die Grenzpolizisten | |
über den Dachboden laufen.“ Mos Eltern sind fest in das DDR-System | |
integriert. Der Vater arbeitet für die Armee, die Mutter im Ministerium für | |
Kultur. | |
Mo aber ist auf eine stille Weise aufsässig. Das Leistungsturnen, zu dem | |
sie, gerade fünf Jahre alt, verpflichtet werden soll, bricht sie ab. Sie | |
schwänzt die Schule, zeichnet lieber oder besucht ihre Oma, die Geschichten | |
vom Krieg erzählt. | |
Die Zeit nach der Wende ist für sie dann mit dem Versprechen einer nahezu | |
anarchischen Freiheit verbunden: „Die Ruinen der Stadt füllten sich mit | |
Leben. Jeder machte, was er wollte.“ Schnell [2][zeigen sich allerdings | |
Schattenseiten]. Nazi-Skins wollen Mo verprügeln; in ihrer neuen Schule | |
wird sie als doofer Ossi beschimpft. Der Vater verliert seinen Job; die | |
Mutter muss, „erschöpft und traurig“, als Supermarktkassiererin arbeiten. | |
Für all die schönen Dinge, die es nun zu kaufen gibt, hat Mo kein Geld. | |
## Ihre seelische Unbehaustheit | |
Am Ende des Bands stellt die erwachsene Mo fest: „Ich lebe heute in einem | |
anderen Land, ohne jemals umgezogen zu sein.“ Dieses seltsame Gefühl | |
zwischen Entwurzelung und Befreiung spiegelt sich schon in der grafischen | |
Gestaltung des Titels auf dem Cover. Das „f“ in „Seid befreit“ ist blau | |
unterlegt und anders geschrieben, sodass man auch „Seid bereit“ lesen kann | |
– den Pionier-Slogan, der während eines Fahnenappells an Mos Schule | |
erschallt. | |
Im Grunde lebt Mo schon als Kind in zwei Ländern: real in der DDR, in ihren | |
Träumen in dem sagenhaften [3][Land jenseits der Mauer], dem „Ort meiner | |
Fantasie“, wie sie ihn nennt. Das Symbol dieser Sehnsucht ist eine Taube, | |
die mehrfach im Comic auftaucht und im wiedervereinigten Deutschland dann | |
auf Mos seelische Unbehaustheit und ihren Wunsch nach Geborgenheit | |
verweist. | |
Es sind ihre eigenen Erfahrungen, die Sandra Rummler in der Gestalt der Mo | |
hier schildert. Rummler ist Malerin, Illustratorin und Graffiti-Künstlerin; | |
„Seid befreit“ ist ihre erste Graphic Novel. Auffällig ist der starke | |
Kontrast, den sie in ihren Bildern zwischen Figuren und Dekor herstellt – | |
auch dies darf man wohl als Visualisierung einer inneren Gespaltenheit, | |
einer Entfremdung zwischen Ich und Umwelt verstehen. Menschen zeichnet | |
Rummler unter Verzicht auf Perspektive flächig und absichtsvoll naiv, im | |
Stil von Kinderzeichnungen. Die Figuren stehen wie ausgeschnitten vor der | |
Aquarellpracht der Hintergründe, die Berliner Stadtansichten zeigen. | |
Mit ihrer kunstvollen Farbgebung evoziert Rummler ganz unterschiedliche | |
Stimmungen, die Ruhe und Tristesse des Ostens ebenso wie die bunte | |
Bewegtheit des Westens. | |
Auf einer Doppelseite ganz in Blau getaucht, mit leichten Anklängen von | |
Klimt und Hundertwasser, wirkt das nächtliche Berlin plötzlich wie eine | |
Märchenstadt. Im Zusammenhang mit der zunehmend unruhigen Lage in der DDR | |
des Sommers 1989 zeigt eine Seite die Mauer; über ihr steht der lakonische | |
Satz: „Die Regierung schwieg.“ Knapper und treffender kann man die | |
zementierte Erstarrung des realen Sozialismus und seiner politischen Elite | |
nicht ironisieren. Vieles von dem, was in „Seid befreit“ erzählt, ist einem | |
schon aus anderen Erinnerungen an die DDR bekannt. Die Bilder aber, die | |
Sandra Rummler gefunden hat, sind neu und aufregend. | |
2 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Christoph Haas | |
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