| # taz.de -- Kinotipp der Woche: Kino in Extremform | |
| > Das Arsenal zeigt noch bis Ende des Jahres eine Reihe mit über 60 Filmen, | |
| > die sein Publikum unbedingt gesehen haben sollte. | |
| Bild: „Double Tide“, USA, Österreich 2009, Regie Sharon Lockhart | |
| Im nebligen Morgengrauen schleppt eine Muschelsammlerin ihren | |
| Arbeitsschlitten auf ein Watt im US-Bundesstaat Maine. Und macht sich | |
| daran, in Schlamm und Schlick nach Muscheln zu suchen. Sie bückt sich mal | |
| hier, mal dort und greift immer wieder ins Feucht-Glitschige. Der Nebel | |
| wird stärker, dann verzieht er sich langsam. Die Morgensonne wird nun | |
| zunehmend Teil der Szenerie und langsam erwachen auch die ersten Vögel. | |
| Mehr passiert eigentlich nicht während der 99 Minuten, die „Double Tide“ | |
| (2009) von Sharon Lockhart lang ist. Gut, im Vergleich zu Andy Warhols Film | |
| „Empire“, in dem acht Stunden lang nichts anderes zu sehen ist als der | |
| Blick aus der Ferne auf das Empire State Building, ist „Double Tide“ | |
| geradezu ein Action-Film. Aber nach herkömmlichen Kriterien bietet er schon | |
| Slow-Cinema in Extremform. | |
| Lediglich in zwei unterschiedlichen Einstellungen wird die Kamera auf ein | |
| Stück Natur während der Ebbe gerichtet und dann gibt es nichts anderes zu | |
| erleben als eine einsame Frau bei ihrer mühseligen Arbeit, Glitschgeräusche | |
| und Tierlaute. | |
| Wer sich darauf einlässt, kann immerhin eine besondere Seherfahrung machen. | |
| Egal, ob man mal nicht voll konzentriert ist oder gar dem Sekundenschlaf | |
| zuneigt: Man verpasst eigentlich nichts, wenn man mal nicht auf die | |
| Leinwand blickt. | |
| Was ungemein beruhigend ist gegenüber dem Glotzen so mancher Serie, bei der | |
| man immer Angst in der Pinkelpause hat, den wahnsinnig wichtigen Dialog zu | |
| verpassen, der entscheidend dabei sein könnte, diesen oder jenen | |
| Handlungsstrang auch wirklich zu verstehen. | |
| Gleichzeitig ärgert man sich dann vielleicht aber auch, wenn man verpasst | |
| hat, wie der Anbruch des Tages in „Double Tide“ die Landschaft prozesshaft | |
| in einem sich dann doch ständig anderen Licht erscheinen lässt. Der Film | |
| funktioniert also letztlich wie ein Stück des Komponisten Steve Reich oder | |
| ein guter Minimal-Techno-Track von Wolfgang Voigt, wo sich auch nichts | |
| entwickelt und gleichzeitig so viel. | |
| Kino kann auch ein Film wie „Double Tide“ sein, anders, ungewöhnlich. Das | |
| ist die generelle Botschaft des Berliner Programmkinos Arsenal nun schon | |
| seit sechs Dekaden. Zum Jubiläum gibt es noch bis Ende des Jahres eine | |
| Reihe im Arsenal, die mit einem vielleicht etwas schwerfälligen Titel | |
| aufwartet, der dafür angenehm selbsterklärend ist: „[1][60 und mehr Filme, | |
| die das Arsenal-Publikum gesehen haben sollte.]“ Mehrere Gastkuratoren | |
| waren für die Filmauswahl zuständig. Begleitet wird die Reihe von | |
| filmwissenschaftlichen Diskussionsveranstaltungen. | |
| Selbst für die hochgesteckten Ansprüche der Arthouse-Institution Arsenal | |
| hat man sich für die Reihe ein ziemlich ambitioniertes Programm ausgedacht. | |
| Godard und Truffaut kann jeder, in der Jubiläumsreihe des Arsenal-Kinos | |
| aber gibt es Filme aus wirklich aller Welt von den Fünfzigern bis Heute, | |
| von denen die meisten wohl selbst für die eingefleischtesten Cineasten | |
| Geheimtipps sein dürften. | |
| In der laufenden Kinowoche lässt sich neben „Double Tide“ zum Beispiel auch | |
| „De Cierta Manera“ (1974) von Sara Gómez sehen, der Grenzen zwischen | |
| Dokumentar- und Spielfilm einfach einreißt. Gewidmet sei er „Menschen“, | |
| erfährt man im Vorspann, „manche davon sind real, andere fiktional“. | |
| Im postrevolutionären Kuba verlieben sich hier die Lehrerin Yolanda und der | |
| Fabrikarbeiter Mario ineinander, gleichzeitig wird die Geschichte der Insel | |
| erzählt und der Alltag der Leute im neuen Kuba dokumentarisch beleuchtet, | |
| was einen ziemlich ungewöhnlichen Film und ein besonderes Zeitdokument | |
| ergibt. Sollte man gesehen haben. | |
| 27 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Hartmann | |
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