# taz.de -- Heimspieltag beim TSV 1860 München: Weiß-Blau und gegen rechts | |
> Zeit für einen Spaziergang zum „Sechzgerstadion“! Vorbei an | |
> Söder-Plakaten und einem Gedenk-Mural an einen verlorenen Arbeiterkampf. | |
Bild: Ein Sieg daheim im Grünwalder Stadion ist das höchste der Gefühle für… | |
GIESING taz | Die Türen der U 2 an der Haltestelle Silberhornstraße ploppen | |
auf und spucken gut gelaunte Menschen aus. Gesänge vermischen sich mit | |
Lachen und Stimmengewirr und rollen von den Wänden der Röhre zurück: | |
„Einmal Löwe, immer Löwe, hey, hey!“ Langsam, aber stetig schiebt sich die | |
Farbe Blau in all ihren Schattierungen die zwei Treppen hinauf ins Freie. | |
„Die Sonne scheint bei Tag und Nacht, im Grünwalder Stadion!“, singen die | |
Fans des TSV München von 1860 und werden mit Sonnenstrahlen empfangen. Von | |
ihrer „Heimat“. So nennen die Löwinnen und Löwen nämlich ihr Viertel, ih… | |
Treffpunkte, ihren Verein und ihr „Sechzgerstadion“. Hier sind sie daheim. | |
Zumindest an Spieltagen. Allerdings hebt sich diese Heimat wohltuend ab von | |
dem, was den meisten so einfällt, wenn sie an München denken. | |
In Giesing gibt es eher keine Hochglanzfassaden, wäre ja auch sinnfrei, | |
denn die wären eh mit Tags und weiß-blauen Aufklebern übersät wie alles | |
hier. In Giesing wohnt überwiegend noch nicht das große Geld. Dönerläden, | |
asiatische Supermärkte, Ein-Euro-Shops und sich gegenseitig auf niedrigem | |
Preisniveau unterbietende Friseurgeschäfte prägen das Bild. | |
Kein Laptop in der Lederhose. Kein „Mia san Mia“. Der FC Bayern ist hier so | |
beliebt wie Fußpilz in Kombination mit Maul- und Klauenseuche. „Sechzig | |
asozial, sechzig international, olé, olé.“ | |
## Mehr Kreuzberg und weniger Gillamoos | |
Keine Bierzelte. Das Flaschenbier mit dem gütigen Mönch im bräunlich-grünen | |
Etikett genügt vollkommen. [1][Mehr Kreuzberg halt und weniger Gillamoos.] | |
Darauf sind sie stolz hier. Echter Heimatstolz. | |
Aber was wäre ein Daheim ohne Wohnzimmer? Genau. Deshalb gibt es diese | |
Wohnzimmer recht zahlreich in Obergiesing. Und auch in Untergiesing. Gleich | |
gegenüber vom U-Bahnhof ist eines. Da stehen sie in dichten blauen Trauben | |
mit ihren Bierflaschen um das „Café Schaumamoi“ herum und diskutieren die | |
Erfolgsaussichten des Nachmittags. „Heut verliern mir eh wieder“. „Ach wo, | |
des gwinnen mir locker. 3:0! Mindestens!“ „Ist doch wurscht, Hauptsache, | |
mir sind daheim.“ | |
Das „Schaumamoi“ ist ein ehemaliges Trambahnhäusl und bietet seinen Gästen | |
neben dem wohl kleinsten Biergarten Münchens eine enorm praktische | |
Unisextoilette. Etwaige Diskussionen, welche geschlechtlichen Identitäten | |
diese benutzen dürfen, stellen sich nämlich gar nicht. Ebenso wenig wie die | |
Frage nach der Legalisierung von Cannabis. | |
Nur etwa sechzig Meter weiter ein ähnliches Bild beim „RiffRaff“. Ein | |
Inferno aus unzähligen Tags, Graffiti und Klebern erschlägt einen, wenn man | |
sich in dem charmanten, nahezu fensterlosen Betonbau noch kurz an der Bar | |
erfrischen möchte. Punk is not dead. | |
## Der Brunnenmiller: 30 Seiten mehr als nur Fußball | |
Draußen vor der Tür stehen ein paar junge Ultras und verkaufen das Fanzine | |
der Szene, den Brunnenmiller. Es erscheint zu jedem (sic!) Heimspiel. Auch | |
in englischen Wochen mit zwei Heimspielen. Um die 30 Seiten. Arbeit und | |
Herzblut ohne Ende. Und regelmäßig mit Themen, die über Fußball und | |
Vereinspolitik hinausgehen. Das Schicksal jüdischer Vereinsmitglieder | |
während der Nazizeit etwa. Oder der illegale Abriss des denkmalgeschützten | |
„Uhrmacherhäusls“ in Giesing durch einen Spekulanten. | |
Das Heft rief damals zur Demo vor den Trümmern auf. Anwohner und Fans kamen | |
zahlreich. Oder die oft problematische Beziehung zwischen den feiernden | |
Fans und der martialisch in Schwarz dagegenhaltenden Staatsmacht, die das | |
Stadion regelmäßig umzingelt, in Giesing ähnlich beliebt ist wie der FC | |
Bayern (siehe oben) und gelegentlich nach altem bayrischen Brauch auch | |
„hinlangt“. Nicht selten anlasslos. Der Brunnenmiller unterstreicht mit | |
seinen Inhalten den Eindruck, den man schon durch bloßen Augenschein hier | |
überall gewinnen kann. 1860 München, die Löwenfans und die Anwohnerschaft | |
in Giesing sind untrennbar miteinander verwoben. „Ois Giasing!“ | |
An etlichen weiteren Wohnzimmern vorbei geht es zum „Grünspitz“, einem von | |
großen alten Kastanien beschatteten grünen Dreieck, geformt durch die hier | |
auf die Tegernseer Landstraße treffende Martin-Luther-Straße und | |
entsprechend umtost vom Autoverkehr. Früher war der Grünspitz selbst mit | |
Autos zugeparkt, ein Händler hatte hier jahrzehntelang seine Gebrauchtwägen | |
zur Schau gestellt. Heute, begrünt, mit einer Bühne aus Holz und einem | |
kleinen Nachbarschaftsgarten ausgestattet, dient er den Giesingerinnen und | |
Giesingern als Ort für Veranstaltungen, Treffen und allerlei Aktivitäten. | |
Und natürlich den Löwinnen und Löwen. Als das größte ihrer vielen | |
Wohnzimmer. Von hier aus ist die Stadionsilhouette mit den | |
charakteristischen Flutlichtmasten schon gut zu sehen. | |
Zwischen dem Grünspitz und den Kassenhäuschen am Eingang zur Stehhalle | |
liegt dann nur noch ein Wohnzimmer. Letzte Tankstelle direkt gegenüber vom | |
Stadion. Der Wienerwald, angeblich der erste überhaupt. Mit Sicherheit aber | |
einer der bekanntesten. Generationen von Löwenfans haben hier die letzte | |
Halbe vor dem Spiel getrunken. Mittlerweile heißt der Wienerwald übrigens | |
Balkanwald, auch wenn ihn natürlich niemand so nennt. Aber das ist eine | |
andere Geschichte, also noch mal zurück zum Grünspitz. | |
## Auch Giesing ist nicht immun gegen braunes Gesocks | |
Aus großen Lautsprechern wummern tiefe Bässe und fette Beats. Ein | |
türkischer Rapper. Mehrere Fangruppen haben ihre Stände aufgebaut und | |
bieten Szene-Merch an. Auch die „Löwenfans gegen Rechts“. Ihre Shirts und | |
Hoodies zeigen neben dem doppelschwänzigen schwarzen Löwen eine Faust, die | |
das Hakenkreuz zerschmettert. Ja, braucht’s das denn, in dieser Idylle? | |
Ja mei, leider. Auch Giesing ist halt nicht immun gegen | |
gesamtgesellschaftliche Realitäten. Wie man so hört und liest, soll das ja | |
nicht einmal im bayrischen Kabinett der Fall sein. Überdurchschnittlich | |
groß ist das Problem mit dem braunen Gesocks in Giesing aber sicher nicht. | |
Und ob größer oder kleiner als in der Staatsregierung – das lässt sich an | |
dieser Stelle leider nicht abschließend klären. | |
Apropos Giesinger Idylle, apropos Staatsregierung. Ob des Gedankens an | |
Letztere ist Erstere nicht mehr ganz ungetrübt. Schließlich ist ja | |
Wahlkampf. Von der rotierenden Litfaßsäule rechterhand an der | |
Martin-Luther-Straße nimmt uns bei jeder Umdrehung ein finster blickender | |
Markus Söder ins Visier. Big Brother? Landesvater? [2][Wer weiß schon bei | |
Söder, in welcher Rolle der gerade wieder unterwegs ist]. Eben. Am ehesten | |
erinnert er auf Fotos immer an einen Vampir. | |
Wie damals bei seinem Kreuzerlass. In allen Amtsstuben Bayerns sollte ein | |
großes Kreuz hängen. Söder ging mit gutem Beispiel und einem Holzkreuz in | |
der Staatskanzlei voran. Er hielt es mit zwei Fingern auf Abstand, als | |
scheue er den unvermeidlichen Zerfall zu Asche, und grinste diabolisch ins | |
Off. Licht wie von Kerzenschein erzeugte eine Art Halbdunkel. Klick. | |
Legendär. Echt noch besser als seine angedeutete Baumumarmung. Beine | |
gespreizt, nur zaghaft mit den Händen über Bauchhöhe am Baum. Als wäre er | |
ums Haar bei einer Ordnungswidrigkeit ertappt worden. Die kolportierten | |
25.000 Euro, die der Mann im Monat für Fotos verbrät, sind für den | |
Steuerzahler wirklich gut angelegtes Geld. | |
Neben Söder hängt Franz Josef Strauß. Also am Grünspitz. An der zweiten | |
Säule ein paar Meter weiter. Mit dem Spruch „Wir wollen mit rechtsradikalen | |
Narren und Extremisten nichts zu tun haben.“ | |
Soso. Das lassen wir jetzt einfach mal so stehen. War halt wahrscheinlich | |
vor [3][Erding] schon gedruckt. | |
## Erinnerungsmural an den Widerstand im Arbeiterviertel | |
Schräg gegenüber von Söder und Strauß ein echtes Giesinger Kleinod. Obwohl | |
es die Vorderseite eines mehrstöckigen Hauses bedeckt. Ein Mural, wohl das | |
größte der Stadt. Geschaffen vom Sprayer Won ABC, zeigt es Kurt Eisner und | |
andere Vorkämpfer*innen der Münchner Räterepublik im Ringen mit braunen | |
Mächten und Gestalten. Damit hat die CSU natürlich nix am Hut. Die Räte der | |
Arbeiter, Soldaten und Bauern wurden zum Glück Ende April 1919 von den | |
weißen Garden niederkartätscht. Auch der hartnäckigste Widerstand in den | |
Arbeitervierteln Giesing und Au. | |
Die Wiedergänger und Nachfolger der weißen Garden finden sich heute in den | |
Schützenvereinen des Oberlandes, mit denen die Granden der CSU alljährlich | |
so gerne in Tracht und zu Marschmusik dahindefilieren. Immer schöne Bilder, | |
gell, Markus? | |
Und Kurt Eisner, der erste Ministerpräsident Bayerns, der damals den | |
Freistaat Bayern proklamiert hatte? Der war eh schon tot. Erschossen. Im | |
Februar 1919. Von einem Nazi, der vor Gericht milde davonkam. | |
Und der Freistaat Bayern? Den hat die CSU eingesackt. Komplett und schon | |
ewig. Die tun einfach so, als hätten sie ihn erfunden, und fast alle kaufen | |
ihnen das ab. | |
Gleich mehrere Kreise schließen sich. Auch unser kleiner Spaziergang in | |
Giesing ist zu Ende. | |
Ich muss jetzt ins Stadion. | |
30 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Herbert Schröger | |
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unklar. |