| # taz.de -- In Mexiko verschwundene Studenten: Der endlose Kampf gegen Lügen | |
| > Vor 9 Jahren wurden in Mexiko 43 Studenten entführt. Politik und Polizei | |
| > sollen verwickelt sein. Hintergründe liefern jetzt US-Drogenfahnder. | |
| Bild: Cristina Bautista, Mutter eines verschwundenen Studenten, bei einer Sucha… | |
| Oaxaca taz | Benjamín Ascencio Bautista war gerade erst aus einem | |
| abgelegenen Dorf ins Internat gezogen. Der 17-Jährige wollte Lehrer werden, | |
| um später Kindern in der Region um die südmexikanische Kleinstadt Iguala | |
| Rechnen, Schreiben und den Gemüseanbau beizubringen. | |
| Mit anderen Studenten des Lehrerseminars Ayotzinapa macht er sich im | |
| September 2014 in die Kleinstadt auf. Sie wollen dort Busse | |
| „beschlagnahmen“, mit denen sie zu einer Demo nach Mexiko-Stadt fahren | |
| wollen. Eine ungewöhnliche, aber nicht unübliche Art und Weise von | |
| gewerkschaftlichen und sozialen Aktivist*innen, sich solche Fahrten zu | |
| organisieren. | |
| In seine Heimatgemeinde wird Bautista nie wieder zurückkehren. Polizisten | |
| stoppen die Busse, nehmen die jungen Männer fest und übergeben sie | |
| Kriminellen. Schüsse fallen, sechs Menschen sterben. Von Bautista und | |
| seinen Kommilitonen fehlt seither jede Spur. | |
| Genau [1][neun Jahre ist es her], seit die 43 Studenten in der Nacht vom | |
| 26. auf den 27. September 2014 in Iguala verschleppt wurden. Seither suchen | |
| Cristina Bautista, die Mutter von Benjamín, und andere Angehörige | |
| verzweifelt nach ihren Liebsten. Derzeit bereitet sich die 48-Jährige | |
| wieder auf Aktionen zum Jahrestag vor. „Nie dachte ich, dass wir nach so | |
| langer Zeit nicht wissen, was mit ihnen passiert ist“, sagt sie der taz. | |
| Der Verlust, der ewige Kampf, die Lügen und Demütigungen der Behörden | |
| belasten die Mütter, Väter und Geschwister ständig. | |
| ## Gezielt falsch ermittelt | |
| Von Anfang an hatten die Angehörigen und | |
| Menschenrechtsverteidiger*innen Hinweise darauf, warum die | |
| Ermittlungen nicht vorankommen: Neben der lokalen Polizei und der | |
| kriminellen Organisation [2][„Guerreros Unidos“] könnten auch | |
| Bundespolizist*innen, die Armee und Politiker*innen auf höchster Ebene | |
| in das Verbrechen verstrickt sein. | |
| Recherchen einer Unabhängigen Internationalen Expertengruppe (GIEI) | |
| bestätigten, dass der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam | |
| gezielt falsch ermittelte und der oberste Polizeichef Beweise manipulieren | |
| sowie Gefangene foltern ließ, um eine „historische Wahrheit“ der Tatnacht | |
| festzuschreiben. Demnach seien die entführten Studenten auf einer Müllhalde | |
| von Kriminellen verbrannt worden. Die Tat sollte so auf ein lokales Problem | |
| reduziert werden, um zu verschleiern, was tatsächlich passiert ist. | |
| ## Drogen im Bus? | |
| Vor wenigen Wochen [3][veröffentlichte die New York Times] nun | |
| Informationen der US-Antidrogenbehörde DEA, die alle Befürchtungen von | |
| Bautista und ihren Mitstreiter*innen bestätigten. Die Fahnder hatten | |
| 2014 rund 23.000 Textnachrichten abgefangen, die aufzeigen, dass fast alle | |
| Zweige der Regierung des Bundesstaats Guerrero, in dem Iguala liegt, im | |
| Auftrag der Guerreros Unidos gehandelt haben. | |
| Die DEA hatte die Kommunikation überwacht, weil die Kriminellen regelmäßig | |
| große Mengen Heroin aus Guerrero in die USA schmuggeln. Einmal mehr | |
| verhärtete sich der Verdacht, dass die Guerreros Unidos die Studenten für | |
| eine rivalisierende Bande hielten und die jungen Männer möglicherweise | |
| einen Bus gekapert hatten, in dem sich Drogen befanden. | |
| Die abgefangenen Nachrichten zeigen die korrupten Strukturen auf, mit denen | |
| die Guerreros Unidos agieren, um im Schutz der Sicherheitskräfte Drogen zu | |
| transportieren. Die Polizeichefs, die die Studenten festnehmen ließen, | |
| standen demnach ebenso im Sold der Kriminellen wie das Militär. | |
| Bandenmitglieder besprechen in den SMS mit ihren in Chicago lebenden Chefs | |
| ihr Vorgehen. „Sollen wir ihn kalt machen?“, fragt ein Krimineller wegen | |
| eines abtrünnigen Informanten aus dem Rathaus. | |
| ## Es brauchte Unterstützung der US-Drogenfahnder | |
| Vor allem aber bestätigten die Nachrichten, wie stark die Armee am | |
| Verschwinden der 43 Studenten beteiligt war, erklärt Santiago Aguirre von | |
| der Menschenrechtsorganisation Centro ProDH. Den Ermittlern seien die | |
| Informationen schon bekannt gewesen, da die DEA sie vor einem Jahr an die | |
| mexikanischen Behörden weitergegeben habe. Sie führten etwa zur Verhaftung | |
| eines Generals, der damals das Infanterie-Bataillon von Iguala | |
| kommandierte. | |
| Offenbar brauchte es die Unterstützung der US-Drogenfahnder, um bei der | |
| Suche nach den Täter*innen voranzukommen. Denn das mexikanische Militär | |
| weigert sich bis heute, Dokumente herauszugeben, die mehr Klarheit schaffen | |
| könnten. Die Expertengruppe stellte deshalb vor zwei Monaten ihre Arbeit | |
| ein. „Es besteht ein bewusstes Interesse daran, die Tatsachen nicht | |
| aufzuklären und substanzielle Teile im Dunkeln zu halten“, erklärt | |
| GIEI-Mitglied Carlos Beristain. So mache eine Weiterarbeit keinen Sinn. | |
| Für Cristina Bautista war die Entscheidung ein schwerer Schlag. Ohne | |
| Recherchen der unabhängigen Expert*innen wären viele Fakten nie ans | |
| Licht gekommen. Etwa, dass Soldaten vermeintliche Beweise auf einer | |
| Müllhalde platzierten, um die „historische Wahrheit“ zu untermauern. | |
| ## Jahrelang belogen und betrogen | |
| Immer wieder stieß die GIEI auf die fragwürdige Rolle des Militärs. Die | |
| Soldaten waren in der Nacht über ein gemeinsames Funksystem ständig über | |
| das Vorgehen der Polizisten informiert. Zudem hatten sie einen Spitzel in | |
| der Uni, der auch verschleppt wurde. „Es war eine koordinierte Aktion, die | |
| Armee hatte unsere Söhne schon im Blick, als sie Ayotzinapa verließen“, | |
| erklärt Bautista. Noch Tage nach dem Verschwinden wussten die Soldaten, wo | |
| sich einige Studenten befanden, gaben die Info aber nicht weiter. Dabei | |
| hätten so Menschenleben gerettet werden können. | |
| Jahrelang fühlten sich die Angehörigen von Strafverfolgern belogen und von | |
| Politiker*innen betrogen. Nichts ging voran. Als dann 2018 [4][Andrés | |
| Manuel López Obrador die Präsidentschaft übernahm], keimte neue Hoffnung | |
| auf. Der Staatschef erklärte die Aufklärung der Tat zur Chefsache. Eine | |
| Wahrheitskommission wurde gegründet, deren Vorsitzender sprach von einem | |
| „Staatsverbrechen“. Ein Sonderstaatsanwalt wurde ernannt, der | |
| Ex-Generalstaatsanwalt verhaftet und gegen den Polizeichef Haftbefehl | |
| erlassen. | |
| Die Strafverfolger ließen zahlreiche Beamt*innen, Politiker*innen, | |
| Kriminelle und sogar Militärs verhaften. Viele von ihnen sind jedoch wieder | |
| auf freiem Fuß, zudem mussten früher Verhaftete freigelassen werden, weil | |
| sie gefoltert worden waren. Fazit: Bis heute ist kein einziger der Täter | |
| für das Verbrechen strafrechtlich verurteilt worden. Und die Angehörigen | |
| wissen immer noch nicht, was mit ihren Liebsten passiert ist. | |
| ## Nicht nur Angehörige sind zunehmend wütend | |
| Dass die Versprechungen des Präsidenten nicht eingehalten wurden, lässt | |
| nicht nur die Angehörigen zunehmend wütender werden. Immer wieder ziehen | |
| Ayotzinapa-Studenten vor militärische Einrichtungen, werfen Steine oder | |
| Molotowcocktails. Erst vergangene Woche lieferten sie sich in Iguala wieder | |
| Auseinandersetzungen mit Polizisten und sprühten auf die Kasernenwände: „Es | |
| war das Militär.“ | |
| Auch Cristina Bautista verzweifelt an der Blockadehaltung. Immer wieder | |
| muss sie daran denken, wie sie nach dem 27. September 19 Monate das | |
| Ayotzinapa-Gelände nicht verließ und nie nach Hause ging, weil ihr Sohn | |
| wissen sollte, dass sie auf ihn warte. | |
| Doch die 48-Jährige gibt nicht auf. „Wir hoffen weiterhin darauf, dass | |
| López Obrador sein Wort hält“, sagt sie. Aber auch sie weiß, dass die Macht | |
| des Militärs weit über die des Präsidenten hinausgeht. Im Krieg um | |
| Drogenanbaugebiete und Schmuggelrouten liefern sich Mafiagruppen zudem | |
| schwere Gefechte, die inzwischen nicht mehr nur mit Sturmgewehren, sondern | |
| auch mit bewaffneten Drohnen geführt werden. Polizisten, die mit den | |
| Kriminellen an den Kontrollstellen der Mafia stehen, erscheinen als | |
| Staffage. Juristen stehen auf der Gehaltsliste von | |
| Verbrecherorganisationen. | |
| ## Das Schicksal nicht hinnehmen | |
| Bautista und ihre Mitstreiter*innen leben in diesen Verhältnissen. | |
| Manche Angehörige sind bereits gestorben, andere schwer krank. Doch sie | |
| wissen: Ohne ihren Einsatz würde heute niemand mehr über die 43 | |
| verschleppten Studenten reden – so wie auch die anderen 111.000 in Mexiko | |
| Verschwundenen nur Beachtung finden, weil viele ihrer Mütter, Väter oder | |
| Geschwister ihr Schicksal nicht hinnehmen. | |
| Benjamín Ascencios Mutter ist deshalb auch zum jetzigen Jahrestag wieder | |
| ständig unterwegs: erst in der vier Stunden entfernten Landeshauptstadt | |
| Chilpancingo, dann auf der Demo in Mexiko-Stadt und danach in Iguala, um | |
| den in der Nacht Ermordeten zu gedenken. Sie hofft bis heute, dass ihr Sohn | |
| noch am Leben ist. „Die Behörden wissen doch gar nichts“, sagt sie und | |
| wiederholt, was viele Angehörige fordern: „Lebend habt ihr sie uns | |
| genommen, lebend wollen wir sie zurück.“ | |
| 26 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-Fund-von-Massengraebern-in-Mexiko/!5031674 | |
| [2] /Verschwundene-Studenten-in-Mexiko/!5031732 | |
| [3] https://www.nytimes.com/2023/09/02/world/americas/mexico-iguala-students-ki… | |
| [4] /Amtsantritt-von-Lopez-in-Mexico/!5551520 | |
| ## AUTOREN | |
| Wolf-Dieter Vogel | |
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