| # taz.de -- Bevölkerungswachstum: Menschen als Gefahr | |
| > Die Diskussion über ein nötiges Schrumpfen der Weltbevölkerung hat oft | |
| > einen rassistischen Unterton. Und weniger Menschen sind auch keine | |
| > Lösung. | |
| Bild: Radikal weniger Menschen bringen radikal weniger Innovationen hervor | |
| Glauben Sie wirklich, sagte die Künstlerin, die ich neulich zum Tee traf, | |
| dass die Menschheit überleben sollte? Ich war kurz überrascht über die | |
| Direktheit der Frage; aber ich verstand, was sie meinte: Wenn die | |
| Menschheit gerade den Planeten zerstört, kann das Überleben des Planeten | |
| dann nicht besser gelingen ohne den Menschen? | |
| Es war eine hypothetische Frage und doch sehr realistisch. Die Künstlerin | |
| ist, nach allem, was ich weiß, eine sehr menschenfreundliche Person – aber | |
| paradoxerweise muss sich in diesen Tagen der sich überlagernden | |
| Katastrophen gerade der Menschenfreund mit dem Ende der Menschheit ziemlich | |
| aktiv auseinandersetzen. | |
| Am anderen Ende des moralischen wie politischen Spektrums sind es einzelne, | |
| sich gottgleich wähnende Individuen, die sich um das Überleben nicht der | |
| Spezies, sondern ihrer selbst sorgen – und alles dafür tun, ihr Leben auf | |
| diesem Planeten zu verlängern, am besten in die Unendlichkeit hinein. Bryan | |
| Johnson etwa, ein Tech-Milliardär, der im Podcast „The Immortals“ davon | |
| erzählt, wie er sich Blutplasma seines Sohnes injizieren lässt, um seinen | |
| Körper zu verjüngen. | |
| [1][Es gibt ein Foto der beiden mit bloßem Oberkörper]: Johnson, der 46 | |
| Jahre alt ist, hat eine sehr ausgeprägte Brustmuskulatur und ist auch sonst | |
| sehr trainiert; sein Sohn hat ebenfalls sehr definierte Muskeln und schaut | |
| genauso selbstsicher in die Kamera wie sein Vater – es ist nicht allein die | |
| leicht riefenstahlhafte, von unten fotografierte Perspektive, die dem Bild | |
| etwas Faschistoides verleiht. | |
| ## Die Weltbevölkerung wird schrumpfen | |
| Was bedeutet es also, wenn sich ein paar Superreiche um ihr ewiges Leben | |
| kümmern, während wir anderen langsam immer weniger werden? Denn das ist der | |
| eigentliche Trend, der erst einmal überraschend wirkt: Die Weltbevölkerung | |
| wird schrumpfen, so zeigt es die Recherche des amerikanischen Ökonomen | |
| [2][Dean Spears], die er in der New York Times veröffentlichte – und das | |
| ist keine gute Nachricht. | |
| Die Grafik, die seine Recherche illustriert, ist ziemlich eindrucksvoll: | |
| Der Anstieg der Bevölkerung ist rasant und exponentiell. Bis etwa 2085 wird | |
| die Weltbevölkerung weiterwachsen, auf dann zehn Milliarden Menschen. | |
| Danach aber, und das ist etwas unheimlich, wird sie ebenso rasant fallen – | |
| in 300 Jahren, so die Projektion, auf dann zwei Milliarden Menschen. Und | |
| zwar vor allem aus einem Grund: sinkende Geburtenraten. | |
| Spears ist dabei kein kaltherziger Malthusianer (eine Theorie, wonach es | |
| nicht genug Nahrungsmittel für eine wachsende Bevölkerung gebe und diese | |
| zwangsläufig sinke, d. Red.) – gerade in Tech-Kreisen ist diese oft | |
| rassistisch konnotierte Sichtweise verbreitet, dass für das Überleben der | |
| Menschheit deren Schrumpfung notwendig sei und es die Verantwortung der | |
| Eliten sei, über die Opfer, Probleme, das Leiden der Gegenwart die Zukunft | |
| im Blick zu haben. | |
| [3][„Longtermism“] heißt diese Bewegung, die von einem antihumanitären Wa… | |
| unterlegt ist – im Zuge der zunehmenden Klimakatastrophen werden diese | |
| Diskussionen über den unterschiedlichen Wert von Leben mehr werden, oft | |
| unterlegt von wirtschaftlichen oder biologistischen | |
| Überlegenheitsfantasien: Individuelles und kollektives Überleben wird damit | |
| zu einer extrem politisierten Frage. | |
| ## Ausbeutung ist die Gefahr | |
| Wie kann man aber damit umgehen, dass eine Flutwelle mehr als 10.000 | |
| Menschen ins Meer und in den Tod spült, wie gerade in Libyen? Das Tückische | |
| ist dabei, dass der Bevölkerungsdiskurs oft dazu genutzt wird, vorgebliche | |
| Sorge oder sogar Menschlichkeit zu simulieren – Bevölkerungswachstum, wird | |
| oft gesagt, sei das eigentliche Problem der Welt und damit der Menschheit. | |
| Es sei also der Mensch in seiner Masse, der die Gefahr ist – nicht die | |
| Systeme von Abhängigkeiten und Ausbeutung, die Menschen geschaffen haben. | |
| Nicht zufällig sind es oft besonders reiche Menschen, die diese | |
| Argumentation vertreten, vor allem mit Blick auf den Klimawandel und den | |
| Ressourcenverbrauch – als seien es nicht gerade die reichen Länder der Erde | |
| und deren reiche Menschen, die den allergrößten Anteil an der Erderwärmung | |
| hätten. | |
| Spears weist deshalb auch in seinem Beitrag in der New York Times darauf | |
| hin, dass die schrumpfende Weltbevölkerung nicht dazu führt, den | |
| Klimawandel auf irgendeine Weise zu bremsen – bis zum Ende des Jahrhunderts | |
| wird sie noch wachsen, genau in dieser Zeit aber müssen sich Energie, | |
| Ernährung, Verkehr, Bauen auf der Erde radikal verändern, um ein | |
| gemeinsames Überleben zu ermöglichen. | |
| ## Weniger Innovation bei weniger Menschen | |
| Die Probleme, die durch die radikal schrumpfende Weltbevölkerung entstehen, | |
| so Spears, sind dabei in manchem ähnlich zu denen, die durch die | |
| notwendigen Veränderungen im Zeichen des Klimawandels notwendig sind: Es | |
| stellt sich in einem ganz grundsätzlichen Sinn die Frage danach, wie wir | |
| gemeinsam leben wollen – unter gänzlich anderen Bedingungen. | |
| Politisch merken wir schon die Verschiebung in Richtung einer alternden | |
| Gesellschaft, wenn in den USA etwa eine Gerontokratie etabliert wird, im | |
| Präsidentenamt wie im Kongress. Ökonomisch werden sich die Grundlagen von | |
| Wohlstand radikal ändern. Es muss eine Verschiebung der Werte geben, hin zu | |
| mehr Fürsorge und einer anderen Sicht auf nichtmaterielle Güter und | |
| Dienste. Und, ziemlich interessant: Spears vermutet, dass radikal viel | |
| weniger Menschen auch radikal viel weniger Innovation hervorbringen werden. | |
| Man kann das aus misanthropischer Sicht begrüßen – entscheidend für die | |
| Frage des Überlebens bleibt dabei, dass die Menschheit sich heute eben | |
| schon Gedanken machen muss über eine komplett andere Welt. Im politischen | |
| Raum werden diese Gedanken aus verschiedenen Gründen nicht entwickelt. Wir | |
| brauchen aber Orte, Techniken, Fähigkeiten, die Zukunft zu trainieren. Die | |
| Kunst kann eine solche Möglichkeit sein. | |
| 21 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2023/sep/05/the-immortals-meet-the… | |
| [2] https://deanspears.net/ | |
| [3] /Mitbestimmung-kuenftiger-Generationen/!5954484 | |
| ## AUTOREN | |
| Georg Diez | |
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