# taz.de -- Ukrainische Gegenoffensive: Unterwegs auf vermintem Gebiet | |
> Die ukrainische Armee hat die erste russische Verteidigungslinie | |
> durchbrochen. Geht ihre Gegenoffensive nun schneller voran? | |
Bild: Ukrainische Militärangehörige fahren in einem Panzer | |
Es ist das positive Zeichen, auf das die Ukraine und ihre Unterstützer | |
lange gewartet haben. Bei ihrer Gegenoffensive haben ukrainische Truppen | |
die erste von drei russischen Verteidigungslinien im Südosten des Landes | |
durchbrochen. Eine Verteidigungslinie, die aus riesigen Minenfeldern, | |
höckerförmigen Panzersperren aus Beton und breiten Gräben besteht, die | |
gepanzerte Fahrzeuge nicht ohne Unterstützung überqueren können. | |
In [1][einem Interview mit der britischen Zeitung The Observer] erklärte | |
der ukrainische Brigadegeneral Oleksandr Tarnavskiy: „Wir sind nun zwischen | |
der ersten und zweiten Verteidigungslinie.“ Eine Aussage, die westliche | |
Militäranalysten [2][anhand von Aufnahmen ukrainischer Einheiten | |
bestätigten], die eindeutig einem bestimmten Ort zugeordnet werden konnten. | |
Es ist noch kein vollständiger Durchbruch, sondern eine lokale Bresche, die | |
die Ukraine um das Dorf Robotyne geschlagen hat. Aber es ist ein | |
Zwischenerfolg, der auch deshalb so wichtig ist, weil in den vergangenen | |
Wochen die Kritik an den langsamen Fortschritten der ukrainischen | |
Gegenoffensive lauter geworden war. | |
Anonyme Quellen aus dem Pentagon und den US-Geheimdiensten [3][hatten | |
mehrmals Zweifel daran geäußert,] dass die Ukraine die Ziele ihrer | |
Gegenoffensive – nämlich so weit vorzurücken, um die russische | |
Landverbindung zur Krim zu durchtrennen – noch rechtzeitig vor dem Beginn | |
der Schlammzeit erreichen könne. Sechs bis acht Wochen bleiben noch, bis | |
der einsetzende Regen im Herbst den Boden so aufweicht, dass schwere | |
Fahrzeuge nicht mehr vorankommen. | |
## Kamikazedrohnen und Minenfelder | |
Tarnavskiys Interview ist daher auch Teil des Informationskriegs, in dem | |
um die Deutungshoheit über die Ereignisse gerungen wird. Seiner | |
Einschätzung nach hat Russland 60 Prozent seiner Ressourcen in den Ausbau | |
der ersten Verteidigungslinie investiert, 20 Prozent in die zweite Linie, | |
ebenso 20 Prozent in die dritte. Man müsste jetzt also deutlich schneller | |
vorankommen. „Alles liegt nun vor uns“, gab Tarnavskiy sich zuversichtlich. | |
Er gestand aber auch ein, dass die Ukraine gehofft hatte, schneller durch | |
die Minenfelder zu kommen. Der Einsatz von Minenräumfahrzeugen sei nicht | |
möglich gewesen, weil russische Artillerie und Kamikazedrohnen diese sofort | |
angegriffen hätten, wenn sie auf dem flachen Gelände angerückt wären. | |
Infanteriesoldaten mussten deshalb bei Nacht von Hand die Minen räumen, um | |
eine Durchfahrtsmöglichkeit für Panzer und Transporter zu schaffen. | |
Geholfen haben dabei Bilder von Wärmekameras. Weil sich die Minen im Boden | |
bei Sonne stärker aufheizen als ihre Umgebung, konnten die ukrainischen | |
Soldaten mit den Kameras einen Lageplan der Sprengsätze erstellen. | |
Allerdings schlossen russische Soldaten Lücken auch immer wieder mit | |
Minenwerfern und Drohnen, die Minen neu ablegten. Zudem waren viele Minen | |
doppelt, teils dreifach untereinander verlegt. | |
Wie schwierig und gefährlich das Räumen ist, zeigt [4][ein Video auf | |
Twitter] von einem anderen Abschnitt der Front, an dem kein direkter | |
russischer Beschuss droht. In der gleißenden Sonne mit nacktem Oberkörper | |
legt ein ukrainischer Soldat mit den Händen und einem langen Messer eine | |
Panzermine frei, unter der noch eine Granate sitzt, die er ertastet hat. | |
Der Zünder der Granate wird vom Gewicht der Mine nach unten gedrückt. Nimmt | |
man die Mine raus, ohne den Zünder vorher zu fixieren, explodiert die | |
Granate sofort. In dem Video stemmt der Soldat mit geübter Routine mit der | |
einen Hand die Panzermine aus dem Boden, während er mit der anderen Hand | |
den Zünder der Granate nach unten drückt. Erst als er den Sicherungsstift | |
an der Granate eingesteckt hat, kann er ihn loslassen. | |
Russland hat die mehr als 800 Kilometer lange Verteidigungslinie so dicht | |
vermint, wie man das vorher noch nicht kannte. Aber die Minenfelder sind | |
nur eines der Probleme, mit denen die Gegenoffensive zu kämpfen hatte. | |
Die US-Militäranalysten Michael Kofman und Rob Lee haben gerade [5][eine | |
vielbeachtete Zwischenbilanz der Offensive veröffentlicht], nachdem sie im | |
Juli an der Front selbst Eindrücke gesammelt und zahlreiche Berichte | |
ausgewertet hatten. Sie beschreiben, wie die fehlende Lufthoheit der | |
Ukraine zu schaffen machte. Die russischen Kampfhubschrauber zerstörten mit | |
ihren Raketen auch schwere westliche Panzer wie den Leopard 2. | |
Kofman und Lee betonen, dass keine Armee der Welt Erfahrungen mit einer | |
solchen Offensive ohne Luft-Nahunterstützung hat. Aber auch beim | |
Zusammenspiel der anderen Waffengattungen gab es auf ukrainischer Seite | |
zunächst Probleme. So erlitt eine Einheit schwere Verluste, weil der | |
Angriff nicht genau abgestimmt war: Eigentlich schießt die Artillerie | |
zunächst aus weiter Entfernung auf die Stellungen des Gegners, im Zuge | |
dieses Feuerschutzes rücken die gepanzerten Fahrzeuge vor. In diesem Fall | |
kamen diese aber zu spät, der ukrainische Artillerieangriff war schon | |
vorbei – und so konnte die russische Artillerie den Angriff | |
zusammenschießen. | |
Weil die Ukraine mit den ersten größeren Attacken zunächst scheiterte, | |
stellte sie ihre Taktik um. Zum einen versuchte sie mit schwerem | |
Artilleriebeschuss, die russischen Stellungen abzunutzen – daher auch der | |
große Bedarf an Munition –, zum anderen rückte sie mit kleinen | |
Soldatentrupps zu Fuß vor, von Baumlinie zu Baumlinie zwischen den | |
einzelnen Feldern. Auch das führte dazu, dass es so langsam voranging. | |
Entscheidend, da sind sich die meisten Militäranalysten einig, werden nun | |
die nächsten zwei bis drei Wochen sein. Kann die Ukraine die weiteren | |
Verteidigungslinien durchbrechen und damit von einem Stellungskrieg in den | |
Bewegungskrieg kommen? Und hat sie genug Soldaten und Materialreserven, um | |
den Durchbruch auch ausnutzen zu können? | |
Eine Gefahr sei, dass der Ukraine auf dem freien Gelände die Reserven | |
ausgehen könnten, warnen Militärs. Dann müsste sie sich wieder auf | |
Positionen zurückziehen, die sich besser verteidigen lassen. | |
Wie viele Reserven beide Seiten noch haben, weiß niemand genau. Die Ukraine | |
macht dazu, genauso wie zu der Zahl der Getöteten und Verwundeten, keine | |
Angaben. Bei einer Offensive verliert der Angreifer in der Regel mehr | |
Soldaten als der Verteidiger, allerdings soll Russland bei | |
Entlastungsangriffen auch hohe Verluste erlitten haben. | |
Aus der Beobachtung der Truppenbewegung lässt sich sagen, dass beide Seiten | |
bereits Reserven in der Gegend um Robotyne im Einsatz haben. Die russische | |
Armee versucht, im Norden der Front immer wieder Gegenangriffe Richtung | |
Kupjansk zu starten. Die Ukraine konnte diese bisher weitgehend abwehren, | |
doch das bindet auch auf ihrer Seite viele Soldaten im Norden. Es gibt aber | |
Berichte, dass wegen der ukrainischen Erfolge um Robotyne nun russische | |
Elitetruppen aus dem Norden nach Süden verlegt werden, um einen | |
ukrainischen Vormarsch zu stoppen. Außerdem würden Reserven aus Russland an | |
die Front verlegt. | |
## Verkehrsknotenpunkte und die Verbindung zur Krim | |
Von ihrer Position bei Robotyne aus ist für die Ukraine das naheliegendste | |
Ziel nun Tokmak, eine 32.000-Einwohner-Stadt, die sowohl für das Straßen- | |
als auch für das Eisenbahnnetz ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt ist. | |
Danach könnte sie Melitopol ins Visier nehmen. Wenn das gelänge, könnte die | |
Ukraine die russische Landverbindung zur Krim ernsthaft gefährden. | |
Unterschiedliche Einschätzungen gibt es unter Militäranalysten aber, ob | |
diese Städte überhaupt erobert werden müssen. Ein Kampf um einzelne Häuser | |
und Straßenzüge ist sehr langwierig und extrem blutig, wie man in Bachmut | |
gesehen hat. | |
Möglich wäre auch, dass die ukrainischen Truppen diese Städte umgehen und | |
sich darauf konzentrieren, Positionen zu besetzen, von denen sie die | |
Verkehrsverbindungen kontrollieren oder immer wieder attackieren können. | |
Das könnte schon reichen, um die russische Versorgung der Krim zu | |
unterbrechen oder zumindest stark zu stören. Zum genauen Ziel ihrer | |
Gegenoffensive hat sich die ukrainische Seite nie geäußert. Um den Gegner | |
im Unklaren zu lassen – aber auch, weil sich das je nach Lage vor Ort | |
verändern kann und man auch Gelegenheiten nutzen will, die sich auftun. | |
Russland setzt unterdessen weiter auf Terror gegen die Zivilbevölkerung. Am | |
Mittwoch traf [6][eine russische Rakete einen belebten Marktplatz in der | |
70.000-Einwohner-Stadt Kostjantyniwka], rund 15 Kilometer von der Front | |
entfernt. 16 Menschen starben dabei, darunter auch ein Kind. | |
9 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.theguardian.com/world/2023/sep/02/everything-is-ahead-of-us-ukr… | |
[2] https://www.understandingwar.org/backgrounder/russian-offensive-campaign-as… | |
[3] https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/08/17/ukraine-counter… | |
[4] https://twitter.com/AndySch64494719/status/1698014260381556789?s=20 | |
[5] https://warontherocks.com/2023/09/perseverance-and-adaptation-ukraines-coun… | |
[6] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/kiew-angriff-tote-100.html | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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