Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: O du Mirakel der neuen Marotte!
> Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (15): Ohne Einkaufskorb gegen die
> Fahrtrichtung sitzen. Eine Eloge auf die persönliche Schrulle.
Bild: Ist das eine Marotte, oder kann das weg? Mirakulöses Geschehen mit per…
Das größte Wunder der Welt ist für mich das stete Wundern über mich selbst.
Oder, um es einen Hauch präziser zu fassen, das ewige Erz- und Endwunder,
dass ich mich darüber tatsächlich noch wundern kann. Insbesondere staune
ich immer wieder aufs Neue, dass ich mir offenbar alle paar Wochen
unversehens eine brandneue Marotte zulegen muss. Obwohl ich eigentlich
neben meinen vielen Spleens schon genügend Schrullen und Macken besitze,
kann ich mich über einen kostbaren Neuzugang doch jederzeit so herzhaft
freuen wie eine Kleingarten-Grillparty über ein kühles Fässchen Helles.
In meiner umfangreichen Sammlung will ich mich freilich gar keiner
besonderen Extravaganzen rühmen. Das meiste darin ist weitverbreitet und
alltagstauglich. Einen wahren Marottenklassiker habe ich zum Beispiel in
der Gepflogenheit, das Haus nicht verlassen zu können, ehe ich mir nicht
zwei frische Papiertaschentücher eingesteckt habe – es könnte mich ja
jederzeit ein Schnüpfchen überraschen.
Im Supermarkt nehme ich mir grundsätzlich keinen Einkaufskorb, sondern
balanciere die Waren zwischen Brustkorb, Unterarmen und den Armbeugen, baue
mit leeren Kartons waghalsige Konstruktionen an und gelobe mir fürs nächste
Mal (erfolglos) Besserung, falls an der Kasse dann doch alles runterfällt.
## Penibler Oberlehrer
Ich kann allerdings auch anders. Wirtshäuser, die sprachliche Fehler in
ihre Facebook-Werbung eingebaut haben, lernen mich als peniblen Oberlehrer
und geifernden Rechtschreibfaschisten kennen, der genauso gut als
Leserbriefschreiber für Die Welt oder die FAZ wirken könnte. Das mag uns in
dem Moment zwar allen unangenehm sein, aber beim nächsten Mal geben sich
die Leute vielleicht mehr Mühe und beauftragen ein professionelles
Lektorat.
Beim vielgeschmähten Bahnfahren finde ich dank meiner Eigenart,
ausschließlich entgegen der Fahrtrichtung sitzen zu wollen, während all die
anderen Passagiere dazu inzwischen zu sensibel sind, selbst in prallvollen
Zügen oft noch einen freien Sitzplatz.
Erheblich mehr Feingefühl erfordert indes eine Angewohnheit, die erst
kürzlich hinzugekommen ist. Bei Gängen durch die Nachbarschaft musste ich
feststellen, dass wegen des drückenden Sommerwetters ständig Haustüren
offenstanden. Um diese überraschenden Einblicke in meine direkte Umgebung
für die spätere Erinnerung aufzubewahren, begann ich heimlich mit dem Handy
in die Treppenhäuser hineinzufotografieren: abgeschabte Briefkästen,
gewundene Altbautreppenläufe, ungeputztes dunkelrotes Linoleum aus den
Fünfzigern, renovierte Pseudomarmorböden mit Spiegelglanz.
Wer mich bei diesem Tun insgeheim beobachten würde, sähe, wie ich mich oft
viertelstundenlang verlegen vor offenen Mietshaustüren herumdrücke und
dabei betont unauffällig aufs Display starre. Da ich mich jedoch nur ungern
bei meiner Hausflurspannerei erwischen lasse, stelle ich mich meist so,
dass ich sowohl die Straße überblicken als auch bequem in den Flur
hineinknipsen kann. So bin ich bislang noch nicht ertappt worden und habe
es auch in Zukunft nicht vor. Diese prickelnde Angewohnheit, die ich eines
Tages vielleicht zu einem richtigen Hobby ausbaue, vermittelt mir das
erhabene Gefühl, hinter die oberflächliche Mietshausfassade der Dinge
schauen zu können.
## Verweigerer der Akzeptanz
Sehr harmlos stellt sich dagegen meine allerneueste mirakulöse Marotte dar.
Beim Surfen im Internet, genauer: beim Betreten von neuen Websites
bestätige ich seit zwei Wochen die Annahme von Cookies nicht mehr pauschal
mit der „Alle akzeptieren“-Option, wie das vermutlich die meisten Menschen
machen, seit die Europäische Datenschutzverordnung uns die Beschäftigung
mit derlei Dingen auferlegt. Stattdessen wähle ich jedes einzelne Mal, wenn
die Information „Wir verwenden Cookies“ aufpoppt, die Schaltfläche
„Individuelle Einstellungen“ und suche mir solange einen Weg, bis am Ende
lediglich die „notwendigen“ oder „funktionalen Cookies“ gespeichert wer…
Mit nur 15 Minuten Verzögerung kann ich dann meine Lektüre fortsetzen –
oder was immer ich gerade im Netz tue.
Warum ich mich immer wieder auf diese anstrengende Klick-Reise begebe? Mir
gefällt der heroische Gedanke, dass ich meine Daten nicht vollkommen
widerstandslos diesen schurkischen Internetmoguln und Datenräubern in den
Rachen werfe, sondern dass ich sie ein klein wenig zappeln lasse. In meinen
schönsten Träumen stelle ich mir vor, dass Mark Zuckerberg, Elon Musk und
Jeff Bezos eines Tages zusammen stirnrunzelnd vor meinen Datensätzen stehen
und sagen: „Verdammt, von diesem Teufelskerl haben wir lediglich 99 Prozent
aller Daten, weil er immer nur die notwendigen Cookies zulässt. Wir müssen
uns wohl einen analogen Privatdetektiv besorgen, um alles über ihn zu
erfahren!“
Ehe die jungen Leute hinter meinem Rücken jetzt aber „Träum weiter, Alter!�…
höhnen, möchte ich gestehen, dass mir diese Marotte, die in letzter
Konsequenz tatsächlich die Regierung zu verantworten hat oder wenigstens
den ahnungslosen Bemühungen des europäischen Gesetzgebers geschuldet ist,
auf Dauer ein bisschen zu zeitaufwendig wird. Ich kann sie nur leider nicht
von heute auf morgen aufgeben, sondern höchstens darauf warten, dass sie
wunderbarerweise von einer anderen Marotte abgelöst wird. Darauf freue ich
mich. Ihr werdet euch noch wundern.
6 Sep 2023
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Psychologie
Außenseiter
Alltag
Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Die Wahrheit
Eis
Spargel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Postmodern und provokant
Slowenische Woche der Wahrheit (1): Zu Gast im Genuss-Konsulat bei der
Frankfurter Freßgass’. Ein mehr als gefundenes Fressen …
Die Wahrheit: Für eine Universität der Schokoriegel
Die europäische Vielfalt schokolierter Pausen-Snacks ist beeindruckend,
abschließend behandelt ist das Thema aber längst noch nicht.
Die Wahrheit: Mobiles grünes Zimmer
Was ist das da in Frankfurts Trabantenstadt? Ein Blumenkübel auf Rädern?
Nein, eine „grüne Bühne für Ihr Programm, Meeting Point oder zur
Entspannung“.
Die Wahrheit: Grauenhafter Graupenschauer
Wirtschaftskrise und Wiederaufrüstung: Die schleimige Grütze kehrt mit
Macht nicht nur in die Niederungen der Hochküche zurück.
Die Wahrheit: Steffi Lemke eiskalt
„Adenauer-Zeiten ade“: Die Bundesumweltministerin greift durch, die Würfel
sind gefallen, eine neue Verordnung regelt die Getränkekühlung im Sommer.
Die Wahrheit: Bleiche Stange, gelbe Klebe
Abschiedsfeier des schlechten Geschmacks: Traditionell endet die
Spargelsaison am 24. Juni. Nun könnte endgültig Schluss sein mit dem
Gemüsewahn.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.