| # taz.de -- Binnenflüchtlinge in der Ukraine: In Zeiten, in denen Hilfe abnimmt | |
| > Seit Kriegsbeginn sind Millionen Ukrainer als Binnenflüchtlinge im Land | |
| > verteilt. Viele von ihnen hoffen, bald wieder nach Hause zu können. | |
| Bild: Kicken weit weg von der Heimat: Alltagsszene im Zentrum für Binnenflüch… | |
| Den Krieg, der seit anderthalb Jahren [1][im Land tobt], bemerkt man im | |
| westukrainischen Uschhorod erst auf den zweiten Blick. Vielleicht auch erst | |
| auf den dritten. Die beschauliche Stadt liegt direkt an der Grenze zur | |
| Slowakei, nach Ungarn sind es keine 30 Kilometer. Luftangriffe hat es hier | |
| noch keine gegeben. Die meisten Häuser aus Habsburger Zeiten im | |
| Stadtzentrum sind renoviert, die sauberen Straßen von bunten Blumenrabatten | |
| gesäumt. | |
| Doch schaut man näher hin, ist auch in dieser scheinbaren Idylle der Krieg | |
| präsent. In der ganzen Stadt werben große Plakate für die Armee. Auf der | |
| Eingangstür des Hotels weist ein Aufkleber darauf hin, wer hier nicht | |
| willkommen ist: In einem rot umrandeten Kreis sieht man ein Schwein in den | |
| Farben der russischen Flagge – es ist durchgestrichen. Ein Schild an der | |
| Rezeption weist den Weg zum Luftschutzraum in der ehemaligen Kellerbar. | |
| Bis 1918 gehörte Uschhorod zur Habsburger Monarchie. Nach deren Zerfall zur | |
| neu gegründeten Tschechoslowakei, ab 1938 zu Ungarn. Erst 1944 fiel die | |
| Stadt an die Sowjetunion. Bis heute leben hier neben Ukrainern auch Russen, | |
| Ungarn, Slowaken und Roma, viele Einwohner haben neben dem ukrainischen | |
| auch einen ungarischen Pass. 116.000 Menschen lebten in der Stadt. Bis zum | |
| Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine. Tausende ukrainische | |
| Flüchtlinge strömten in die Stadt und von hier weiter über die nahen | |
| Grenzen nach Westen. Doch viele blieben auch. | |
| Die Einwohnerzahl von Uschhorod hat sich nahezu verdoppelt. In ganz | |
| Transkarpatien, so heißt das Gebiet, zu dem Uschhorod gehört, sollen es bis | |
| zu 500.000 Binnenflüchtlinge sein, im ganzen Land gut 5 Millionen. Viele | |
| von ihnen kommen aus den stark umkämpften Gebieten der Ostukraine, haben | |
| oft quasi von einem Moment auf den nächsten ihre Häuser und Wohnungen | |
| verlassen, ihre Kinder an der Hand und einen Rucksack mit dem Nötigsten auf | |
| dem Rücken. | |
| ## Probleme beim Zusammenleben | |
| Wie funktioniert die Integration einer so großen Zahl von Menschen in die | |
| Städte und Gemeinden? Welche Probleme ergeben sich beim Zusammenleben | |
| zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen? | |
| In einer zur Notunterkunft umfunktionierten alten Schule in der Kleinstadt | |
| Peretschyn, etwa 20 Kilometer nordöstlich von Uschhorod, leben der | |
| 23-jährige Vlad aus dem Gebiet Luhansk und die ein Jahr jüngere Olga aus | |
| Slodem, Gebiet Donezk. Seit Kriegsbeginn schlafen sie hier in ehemaligen | |
| Klassenzimmern auf behelfsmäßigen Pritschen hinter notdürftig mit Folie | |
| verhängten Fenstern. | |
| Die Luft riecht abgestanden und nach dem Essen, das die Menschen sich in | |
| der Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss zubereiten. Überall hängt Wäsche zum | |
| Trocknen. Privatsphäre gibt es keine. Wie hält man das aus? Und welche | |
| Perspektiven sehen die beiden für ihr Leben? | |
| „Ich habe gerade mein Studium fertig“, erzählt Vlad. „Ingenieurswesen, | |
| alles online“. Seine Hochschule ist kriegsbedingt von Luhansk nach | |
| Sjewerodonezk und später nach Dnipro und Kyjiw umgezogen. „Genau wie wir, | |
| immer weiter westwärts“, sagt Vlad und grinst. Er selbst ist bei Beginn des | |
| russischen Angriffs im Februar „einfach in einen Bus gestiegen, mit meinem | |
| Vater – und irgendwann sind wir dann hier gelandet“, erzählt er. Seine | |
| Mutter sei in Lettland gestrandet. Olga und er haben sich erst hier in der | |
| Notunterkunft kennengelernt, jetzt sind sie ein Paar. | |
| Olga war früher Friseurin, in Peretschyn und Umgebung arbeitet sie jetzt | |
| als Maniküristin. Die junge blonde Frau wirkt mit ihrer gepflegten | |
| Erscheinung etwas deplatziert zwischen Behelfsbetten und Kleiderstapeln. | |
| Olga hat dieses Leben auch ziemlich satt, sie will nach Hause. | |
| „Wir waren gerade eine Woche in Slowjansk“, erzählt sie. „Und bald gehen | |
| wir ganz zurück. Aber erst muss noch Vlads Hund gesund werden, er erholt | |
| sich gerade von einer Krebsoperation.“ Macht ihnen die nahe Front keine | |
| Angst? „Nein, die Front ist doch 28 Kilometer von Slowjansk entfernt“, sagt | |
| Olga. | |
| „Wir leben seit 2014 mit der Frontlinie, wir haben uns längst daran | |
| gewöhnt.“ Und Vlad? „Entweder gehe ich mit oder ich bleibe hier alleine | |
| zurück“, sagt er. Gerade hat er sich für einen Masterstudiengang beworben, | |
| online natürlich. Studieren kann er überall. Mit Olga zusammenleben nur in | |
| Slowjansk. Auch Vlad wirkt nicht, als ob ihm die Rückkehr in den Osten | |
| Angst mache. | |
| Aber nicht alle wollen oder können zurück in die alte Heimat. Viele der | |
| Binnenflüchtlinge kommen aus Regionen, die derzeit russisch besetzt sind. | |
| Oder unter permanentem Beschuss stehen. Viele haben auch nichts mehr, wohin | |
| sie zurückkehren können. Ihre Häuser oder Wohnungen sind zerbombt, in den | |
| Städten der Ostukraine gibt es häufig kaum noch Infrastruktur. | |
| ## Alltagssorgen im Safe Space | |
| In der Kleinstadt Chust, etwa 100 Kilometer südöstlich von Uschhorod, steht | |
| ein Tageszentrum für geflüchtete Frauen und Kinder. Es ist einer von | |
| insgesamt sechs so genannten „Safe Spaces“, die [2][Vostok SOS] im Gebiet | |
| Transkarpatien betreibt. In Chust sind es drei frisch renovierte helle | |
| Räume über einem Ladengeschäft. | |
| Im vorderen ist mit weichen bunten Matten auf dem Fußboden ein kleiner | |
| Indoorspielplatz für Kinder eingerichtet, im Seminarraum nebenan können | |
| ihre Mütter Sozialarbeiter und Psychologen konsultieren. Oder sich | |
| anwaltlich beraten lassen, zum Beispiel, wenn es um Kompensationen für | |
| kriegszerstörte Häuser geht, um Scheidungen oder um in den besetzten | |
| Gebieten verstorbene Angehörige, für die man nicht einfach Sterbeurkunden | |
| bekommen kann. | |
| Die Frauen können sich auch zu Fragen der Existenzgründung oder beruflichen | |
| Neuorientierung beraten lassen. Daneben gibt es Kurse wie Englisch und | |
| Fotografie für Business-Websites, aber auch Pilates, Kunsttherapie, Musik- | |
| und Literaturveranstaltungen. | |
| Gerade ist ein Englischkurs zu Ende gegangen. Einige der Teilnehmerinnen | |
| sitzen jetzt im kleinen Besprechungsraum neben dem Indoorspielplatz | |
| zusammen. Durch die großen Fenster blickt man auf die spielenden Kinder | |
| draußen. Bei Tee und Gebäck erzählen die Frauen von ihren Alltagssorgen. | |
| Ähnlich wie Uschhorod ist auch die Kleinstadt Chust durch den Zustrom von | |
| Binnenflüchtlingen stark gewachsen Vor dem Krieg lebten hier 28.000 | |
| Einwohner, mittlerweile sind 7.000 Menschen neu hinzugekommen. Seitdem | |
| haben sich die Mieten verdreifacht. | |
| Eine einfache Einzimmerwohnung in Chust kostet mittlerweile umgerechnet | |
| fast 180 Euro, was für viele der Frauen bei einem monatlichen | |
| Durchschnittseinkommen von 275 Euro schlicht nicht bezahlbar ist. | |
| Oder sie finden einfach keine Wohnung und möchten nicht länger in der | |
| Notunterkunft bleiben. Einige berichten auch davon, dass sie keine | |
| Betreuung für ihre Kinder haben und deshalb nicht arbeiten können. Denn | |
| Kindergartenplätze sind in der ländlichen Umgebung knapp. Deshalb kehren | |
| auch von diesen Frauen immer wieder einige aus dem sicheren Transkarpatien | |
| trotz anhaltender russischer Raketenangriffe in ihre Heimatorte zurück. | |
| Doch diejenigen, deren Häuser nicht mehr stehen und die keine alten Eltern | |
| zurückgelassen haben, versuchen, beruflich und persönlich im Westen des | |
| Landes Fuß zu fassen. | |
| Zum Beispiel die 60-jährige Irena aus Lyssytschansk. Dreißig Jahre hat sie | |
| in einer Fabrik gearbeitet, jetzt will sie sich als Masseurin selbständig | |
| machen. Die Ausbildung hat sie mit Hilfe des Safe Space im benachbarten | |
| Mukatschewo absolviert. Oder Tetjana aus Charkiw, die mit ihrer 5-jährigen | |
| Tochter schon im März vergangenen Jahres nach Chust gekommen ist. Sie lebt | |
| jetzt in einem Dorf in der Nähe und lehrt online im Fach Finanzwesen an der | |
| Charkiwer Uni. Nebenbei berät sie auch Frauen im Safe Space Chust in | |
| Finanzfragen. Denn fast alle, die hier arbeiten, sind irgendwann selber | |
| geflohen. | |
| Anderthalb Jahre nach Beginn des russischen Großangriffs fragen aber auch | |
| im Gebiet um Uschhorod immer mehr Einheimische, warum die Flüchtlinge immer | |
| noch hier seien. Sie helfen weniger als in den ersten Kriegsmonaten, auch | |
| die humanitäre Hilfe nimmt spürbar ab. Umso wichtiger sind jetzt für die | |
| Menschen geregelte eigene Einkommen, eine berufliche Perspektive und ein | |
| eigenes Zuhause außerhalb temporärer Notunterkünfte. | |
| Transparenzhinweis: Die Recherche wurde durch die [3][Diakonie | |
| Katastrophenhilfe] unterstützt. | |
| 1 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150 | |
| [2] https://vostok-sos.org/en/ | |
| [3] https://www.diakonie-katastrophenhilfe.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Gaby Coldewey | |
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