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# taz.de -- Die Wahrheit: O, du blitzgescheites Erfüllerlein
> Die Wahrheit-Sommerserie „Wahre Wunder“ (12): Das wundersame „Nadelöhr…
> im Thüringer Wald, das seit Jahrhunderten Träume verwirklicht.
Bild: Im Nadelöhr wird immer noch nach Wünschen gegraben
In den fichtenschwarzen Schluchten des Thüringer Waldes, unweit des
Dörfchens G., dessen Name hier nicht ausgeschrieben werden soll, damit es
nicht von Punks überrannt wird wie das leidgeprüfte Sylt, unweit einer
Quelle, deren Wasser so eisenhaltig ist, dass jeder, der davon trinkt, sich
in ein selbstfahrendes Auto verwandelt, befindet sich ein wunderbarer
Felsen, der Wünsche wahr werden lässt.
Dieser Felsen besteht aus 300 Millionen Jahre altem Konglomerat, und es ist
ein Wunder, dass er nach so langer Zeit überhaupt noch da ist. Die
Steinlaus hat ihn verschont. Kein Alteigentümer hat sich gemeldet und ihn
in seinen Vorgarten nach Eppendorf transportieren lassen. Kein
skandinavischer Eis-Tsunami hat ihn nach Italien geschoben. Er ist etwa
sechs Meter hoch und hat unten einen schmalen Durchschlupf.
Konglomerat heißt „Zusammenballung“, und vermutlich wurde dem Felsen durch
einen übersinnlich-geologischen Taschenspielertrick einer ausgeflippten
überirdischen Wesenheit im Karbon die Kraft verliehen, Wünsche zu erfüllen.
Karbon ist das Erdzeitalter, das man sich als „Kaffee“ merken soll in der
Eselsbrücke „Peter Kann Ohne Seine Doofen Kaffee-Pads, Trotz Jeglichem
Kaffee-Pulver, Total Quengeln.“ Steht für sämtliche Erdzeitalter:
„Präkambrium, Kambrium, Ordovizium, Silur, Devon, Karbon, Perm, Trias,
Jura, Kreide, Tertiär und Quartär.“ Logisch, oder?
Die ausgeflippte überirdische Wesenheit hat jedenfalls nicht gequengelt,
als sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, sondern sich kichernd in ihr
schwarzes Loch am anderen Ende des Weltalls verfügt, obwohl sie
wahrscheinlich Peter hieß.
## Enger Durchschlupf
Weil der Durchschlupf unten im Felsen für Erwachsene etwas eng ist, haben
ihn die Einheimischen im Perm auf den Namen „Nadelöhr“ getauft. Seine
wundersame Wirkung wurde durch den verschollenen protofränkischen
Naturburschen und -forscher Theoderich Oderich zufällig entdeckt, als er
auf der Suche nach Amerika durch den Spalt kroch und dabei dachte: „Fänd
ich doch Arnika.“ Kann man ja mal verwechseln.
Hinter dem Felsen stand so viel Arnika, dass Theoderich Oderich eine Legion
Sensonäre anheuern musste, um der üppigen Ernte Herr zu werden. Sie sensten
alles ab, er legte es in Franzbranntwein ein, verkaufte es als
Rheumamedizin bis nach Samarkand und war ein gemachter Mann.
Seither weiß jedes Kind in G., dass der Felsen Wünsche erfüllt. Theoderich
Oderich soll sich nach dem ersten Erfolg einen zweiten gewünscht haben und
bat den Felsen, es möge ihn endlich ein prächtiges Weib erhören. Wenig
später zog ein Tross Husaren durchs Dorf. Mit dabei war eine mächtige
Matrone aus dem Vogtländischen, die mit ihm ausgiebig sächselte. Mit dem
Thüringer Dialekt hatte der Felsen wohl seine Schwierigkeiten, und
Theoderich Oderich wanderte schließlich allein nach Amerika aus.
## Findige Geschäftsleute
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts versuchte dann ein findiger Geschäftsmann
namens Eberhard Buchhorn, den der Handel mit Kamelhaardecken nach G.
verschlagen hatte, aus dem verwunschenen Felsen ein Geschäft zu machen.
Zunächst lockte das Versprechen auf umfassende Wunscherfüllung tatsächlich
ein paar Touristen an. Da der Felsen aber etwas launisch ist, nur Wünsche
erfüllt, die aus einem bestimmten Hirnareal kommen, wurde der Unternehmer
bald als Schwindler vor den Kadi gezerrt und verlor seinen Ruf und
sämtliche Kamelhaardecken. „Von besagtem Gestein geht keinerlei besondere
Wirkung aus“, stellte der Richter nüchtern fest.
Eine von ihm selbst bezeugte Wunscherfüllung geschah dem Verfasser dieser
Zeilen höchstpersönlich, weshalb er sich für die wunderbare Wirkung des
Felsens verbürgen kann. Als Kind kroch er durchs Nadelöhr, stieß sich dabei
den Kopf und wünschte sich, keine Beule zu bekommen und keine
Kopfschmerzen. Seither dengelt er fast täglich mit dem Kopf irgendwo gegen,
hat aber nie eine Beule oder die leisesten Kopfschmerzen. Selbst während
seiner Armeezeit, als man ihm zur Begrüßung den Stahlhelm aufsetzte und mit
einem Feldspaten darauf schlug, blieb er unbeeindruckt stehen, während die
frischgebackenen Kameraden rechts und links bewusstlos zu Boden sanken.
Allerdings sei an dieser Stelle eine Warnung ausgesprochen. Neugierige
Leser sollten sich möglichst nicht auf den Weg nach G. im Thüringer Wald
machen. Denn unter dem Nadelöhr sind im Laufe der Jahre außergewöhnlich
viele Menschen vom Blitz erschlagen worden. Die einzig plausible Erklärung
dafür ist, dass sich viele Besucher tief im Innern heimlich den Tod
wünschen. Seien Sie also mit sich im Reinen, bevor Sie die Reise antreten.
22 Aug 2023
## AUTOREN
Gisbert Amm
## TAGS
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