# taz.de -- Wladimir Kaminer über Ukraine-Krieg: „Kannibalische patriotische… | |
> Seit jeher erzählt Wladimir Kaminer, dass die Russ*innen ein | |
> herzensgutes Volk sind. Dann griff Moskau die Ukraine an – „ein ganz | |
> anderes Russland“. | |
Bild: „Putin ist ein Dummkopf“ steht auf einem Wagen in Tbilissi, wo viele … | |
taz: Eine Art Vertreter Russlands und russischer Kultur bist du schon seit | |
langer Zeit in Deutschland. Wie hat sich das für dich im letzten Jahr | |
geändert? | |
Wladimir Kaminer: Natürlich fühle ich eine Mitverantwortung für das, was | |
passiert ist. Ich habe seit 30 Jahren hier an allen Ecken erzählt, dass | |
Russland im Grunde genommen ein europäisches, kreatives Ausland ist und die | |
Russen ein herzensgutes Volk sind. Diese kannibalischen patriotischen | |
Orgien gegen eine ehemalige sowjetische Republik: Das ist ein ganz anderes | |
Russland, das ist ein konstruiertes und nicht wirklich gewachsenes | |
Russland. Diese Großraum-Fantasien wirken sehr lächerlich im 21. | |
Jahrhundert und rufen Ekel und Verwunderung hervor. | |
Welche Frage bekommst du am häufigsten gestellt? | |
„Was ist passiert?“, fragt man mich immer. Vor allem in Ostdeutschland | |
spüre ich auch eine Art Mitleid von Menschen, die ihren Glauben an Russland | |
noch nicht verloren haben. Auch weil ich jahrelang erzählt habe, dass das | |
Problem in Russland die russische Führung sei, nicht die Bevölkerung. Die | |
Menschen haben keine Mittel, um auf die Politik des Landes einzuwirken. Sie | |
sind in gewisser Weise Geiseln dieser Führungsetage. Und das ist ein | |
gefährlicher Prozess. Ich hatte immer daran geglaubt, dass Russland früher | |
oder später auf die demokratische europäische Schiene zurückkommen würde. | |
Inzwischen sehen wir jedoch, dass es doch nicht so einfach ist und dass die | |
politische Führung auch nicht vom Himmel gefallen ist. | |
Siehst du eine Veränderung in der russischen Gesellschaft? | |
Auf jeden Fall. Die Illusion vom großen Russland als letztem Bollwerk der | |
Moral und der wahren Familienwerte gegen die ganze Welt – nicht gegen die | |
Ukraine – wird leider inzwischen von wirklich vielen Menschen in Russland | |
als Realität wahrgenommen. Und natürlich ist die Rolle der Presse dabei | |
sehr wichtig. Die Menschen sind unglaublich beeinflussbar und formbar. Sie | |
passen sich an. Diesem russischen Präsidenten ist es irgendwie gelungen, | |
sein eigenes „Beleidigtsein“ gegenüber dem Westen zu einem | |
gesellschaftlichen Problem zu etablieren. | |
„Unser Fenster nach Russland“, so lautet das Meduza-Projekt der taz. | |
Bedeutet „Meduza“ für dich auch ein Fenster nach Russland? | |
Ja, das ist eine sehr starke Plattform von Journalisten, die sehr wichtig | |
ist, gerade auch, weil die Berichterstattung über die Situation in Russland | |
und über den Krieg in der Ukraine sehr unterschiedlich geführt wird – je | |
nachdem, wie betroffen die Menschen sind. Das Meduza-Projekt der taz ist | |
extrem wichtig, weil es dem deutschen Publikum auch andere Aspekte dieses | |
Krieges zeigt. Zum Beispiel, dass so viele russische Journalisten ihr Land | |
verlassen mussten. Im Grunde genommen ist das eine Situation, die in der | |
deutschen und europäischen Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist. Eine | |
Million Menschen sind aus Russland geflüchtet – zum Teil die ganzen | |
Berufsstände, wie die Journalisten. Als Folge ist ein ganz neues Russland | |
auf den sozialen Medien entstanden, das jetzt auch eine wichtige Rolle | |
spielt. Für uns in Deutschland ist es zwar ein Großereignis, der Krieg, | |
aber kein existenzielles. Das ist eher eine Art von Rechnung: Wir sind | |
natürlich auf der Seite des Guten und wollen das kleine angegriffene Land | |
in Schutz nehmen, aber nicht zu jedem Preis. | |
Einige Themen, die oft in der Russland-Berichterstattung auftauchen, sind: | |
Patriotismus, Anti-LGBTQ-Gesetze, Medien und NGOs als ausländische | |
Agenten, Oppositionelle im Gefängnis, Oligarchen … Findest du dies eine | |
repräsentative Auswahl? | |
Ja, diese Artikel sind richtig und wichtig, aber damit können die Menschen | |
in Deutschland auch denken: „Irgendwie ist Russland kaputt, verrückt | |
geworden …“ Aber das finde ich falsch. Was mit Russland passiert, wenn es | |
mit dieser patriotischen Wand so weitergeht, wird auch auf unser Leben hier | |
große Auswirkungen haben. Einfach so wird das nicht verschwinden, deswegen | |
müssen wir im Gespräch bleiben und erfahren, was mit den Menschen dort | |
passiert. Wir sollten uns darüber Gedanken machen, wie eine Art | |
Exitstrategie aussehen würde. | |
18 Jul 2023 | |
## AUTOREN | |
Gemma Teres Arilla | |
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