# taz.de -- Berichterstattung über Till Lindemann: Wehret der Einschüchterung! | |
> Erstmals hat ein Gericht die Berichterstattung über die Vorwürfe gegen | |
> Rammstein-Sänger Till Lindemann beanstandet. Der Beschluss ist | |
> alarmierend. | |
Bild: Protest vor den Rammstein-Konzerten in München | |
Die mediale Berichterstattung über die Vorwürfe gegen den Sänger der Band | |
Rammstein, Till Lindemann, beschäftigt derzeit die Gerichte. | |
Zumindest eines lässt sich vorab schon mal einwandfrei feststellen: | |
Differenziert die Presse nicht hinreichend zwischen der Band Rammstein – | |
einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts – und deren Mitglied Till Lindemann, | |
mahnen wahlweise eine Hamburger oder eine Berliner Anwaltskanzlei die | |
jeweiligen Publikationen ab. So weit, so okay. | |
Doch [1][der erste gerichtliche Beschluss] in dieser Causa ist ein Skandal | |
und würde eindeutig eine Beschneidung der Pressefreiheit bedeuten. Und er | |
ist in seinen Begründungen stark widersprüchlich. Der noch nicht | |
rechtskräftige Beschluss des Landgerichts Hamburg untersagt dem [2][Spiegel | |
Passagen seiner Berichterstattung.] | |
Und zwar die, in der über die von Zeuginnen geäußerte Vermutung (vom | |
Gericht „Verdacht“ genannt) berichtet wird, dass jungen Frauen, die für die | |
sogenannte Row Zero – die erste Reihe der Zuschauer bei Konzerten – sowie | |
für Pre-, After- und After-after-Partys gecastet wurden, Drogen verabreicht | |
wurden, um sie sexuell gefügig zu machen. Der Spiegel darf auch nicht | |
schreiben, dass „intern dieser Gang von der Aftershow-Party zur | |
After-Aftershow-Party die „Schlampenparade“ genannt werde. Die Frauen, die | |
nicht ausgewählt wurden, blieben danach auf der regulären Party und könnten | |
von Mitarbeitern der Crew angemacht werden, „Resteficken“ heiße das | |
intern.“ | |
Dem Landgericht fehlt in seiner Begründung die Überzeugung, dass diese | |
Formulierungen – also „Schlampenparade“ und „Resteficken“ – allgeme… | |
Sprachgebrauch innerhalb des Milieus der Band Rammstein war. Die Kammer | |
sieht diese Darstellung als ehrverletzend für Lindemann an. Und das, obwohl | |
der Frontsänger die Passage, in der beschrieben wird, dass es bei seinen | |
Konzerten eine „Suck Box“ gibt, in welcher er sich regelmäßig einen | |
„Blowjob“ hat verpassen lassen, nicht bestritten hat. | |
Das Landgericht musste abwägen, ob Sexualkontakte von Lindemann zu dessen – | |
geschützter – Intimsphäre gehören oder ob darüber berichtet werden darf. | |
Als „beruflichen sexuellen Kontakt“ hat das Landgericht ausdrücklich einen | |
Porno bewertet, an dem Lindemann teilgenommen haben soll. Der „beruflich | |
sexuelle Kontakt“ ist kein Anlass, den Schutz der Intimsphäre von Lindemann | |
aufzuheben. | |
Anders bewertete die Kammer aber den Umstand, dass Lindemann „Teile seines | |
Sexuallebens in die Öffentlichkeit getragen und diese sogar an einem | |
tatsächlich stattgefundenen Geschlechtsakt hat teilhaben lassen, indem er | |
auf einem Konzert ein Video hat einblenden lassen, das zeigt, wie er in | |
einer unter der Bühne eigens dafür installierten Vorrichtung Sex mit | |
Besucherinnen seines Konzerts hat.“ | |
Dieser Umstand erlaubt dem Spiegel auch, detaillierte Einzelheiten eines | |
nicht bestrittenen Sexualkontaktes zu offenbaren. | |
Nicht erst im Fall Lindemann verbietet das Landgericht Hamburg aber | |
faktisch jede Berichterstattung in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen, | |
indem es wägt: „Würde man davon ausgehen, dass immer dann, wenn es […] nur | |
eine Zeugin geben kann, der erforderliche Mindestbestand an Beweistatsachen | |
nicht vorliegt, würde dies dazu führen, dass über einen möglichen Vorfall | |
wie den vorliegenden nie berichtet werden dürfte. Dies mag das zutreffende | |
Ergebnis sein, wenn es neben der Aussage einer Person keine weiteren | |
Anhaltspunkte bzw. Indizien gibt, die für den Wahrheitsgehalt des Verdachts | |
sprechen […].“ | |
Im Falle des Spiegels sieht das Gericht weitere Indizien und beanstandet | |
die Berichterstattung in dem Punkt, wo Aussage gegen Aussage steht (sehr | |
detaillierte Einzelheiten eines Sexualkontakts mit Schilderung des Opfers | |
über „Facefucking“, hartes Drücken des Kopfes etc.) nicht. | |
Trotzdem: Der Beschluss des Landgerichts Hamburg verletzt die | |
Berichterstattungsfreiheit des Spiegels. Der von dem Gericht angelegte | |
Maßstab missachtet eklatant das Grundrecht aus Artikel 5 Grundgesetz und | |
die Maßstäbe der Grundsätze der Verdachtsberichterstattung. Diese ist | |
grundsätzlich zulässig, wenn nicht feststeht, ob der Vorwurf wahr ist. | |
Das Landgericht Hamburg aber umgeht diesen Grundsatz, indem es die | |
Anforderungen an den „Mindestbestand an Beweistatsachen“ überdehnt. Dabei | |
ist es durchaus möglich, diesen Mindestbestand auch bei einer | |
Konstellation, in der Aussage gegen Aussage steht, als gegeben anzusehen. | |
Und zwar dann, wenn die Bekundungen des Opfers glaubwürdig sind. | |
Was aber sind die Kriterien, nach denen der Journalismus ein Opfer als | |
glaubwürdig erachten kann? Zunächst einmal journalistische Sorgfalt. Der | |
journalistische Sorgfaltsmaßstab ist das, was ein Journalist unter den | |
Produktionsbedingungen leisten kann, und nicht das, was ein Landgericht in | |
Dreierbesetzung nach wochenlangen Deliberationen und wechselseitigem | |
Vortrag der Parteien an Hirnwindungen ausstößt. | |
Diese Art der verwinkelten und verstiegenen Rechtsprechung führt zur | |
inneren Zensur unter Journalisten, die derartige Themen bearbeiten und | |
solche Erwägungen schlechterdings nicht vorhersehen können. | |
Bei der Entscheidung des Hamburger Gerichts handelt es sich um eine | |
Verschiebung der Rechtsprechung. Und zwar eine zum Nachteil des | |
Berichtsinteresses der Medien. Diese Situation ist bei den Hamburger | |
Gerichten endemisch, also üblich. | |
[3][Dass der Spiegel sich dagegen wehrt,] ist zu begrüßen. Er kämpft damit | |
gegen die richterliche Einschränkung der Presse durch Einschüchterung und | |
überdehnte Anforderungen an die „pressemäßige Sorgfalt“. | |
26 Jul 2023 | |
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[1] https://www.spiegel.de/backstage/till-lindemann-ueber-die-rammstein-bericht… | |
[2] https://www.spiegel.de/kultur/vorwuerfe-gegen-rammstein-sex-schnaps-gewalt-… | |
[3] https://www.spiegel.de/backstage/till-lindemann-ueber-die-rammstein-bericht… | |
## AUTOREN | |
Johannes Eisenberg | |
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