# taz.de -- Arbeitende Frauen in Westafrika: Auf drei Rädern in die Zukunft | |
> In Nigeria und Sierra Leone nutzen immer mehr Frauen Keke-Fahren als | |
> Einkommensquelle. Auch Fahrgäste schätzen die motorisierten Dreiräder. | |
LAGOS/FREETOWN taz | Das knallgelbe Keke Napep mit dem schwarzen Dach ist | |
nagelneu und hat bisher nur wenige Kilometer auf dem Tacho. Auf der | |
Rückseite des motorisierten Dreiradtaxis pappt noch ein Aufkleber, der eine | |
zwölfmonatige Garantie verspricht. Die Kunstledersitze sind mit Folie | |
überzogen. Auf dem Boden ist Noppenfolie ausgebreitet. | |
Neu-Besitzerin Beatrice Uduma möchte, dass es möglichst lange gut aussieht | |
und problemlos fährt. Für die 38-Jährige soll das Gefährt die Fahrt in ein | |
neues Leben sein. Erst seit Kurzem verdient sie ihren Lebensunterhalt als | |
Keke-Fahrerin in Oworonshoki, einem Viertel in Nigerias Metropole Lagos. | |
Auf den Rücksitz können sich drei Passagiere mit Kindern auf dem Schoß | |
quetschen, auf den Fahrersitz eine zusätzliche Person. | |
Im Moment steht das Taxi auf drei kleinen Rädern jedoch am Straßenrand. | |
Beatrice Uduma trägt ein graues Kleid, eine gestrickte Mütze in Altrosa, | |
sitzt hinter dem Steuer und wartet auf Kundschaft. Es ist Freitagmittag, | |
und die Straßen sind in dem sonst so dicht besiedelten Viertel der Megacity | |
Lagos, in der mehr als 20 Millionen Menschen leben, leer. Zahlreiche Männer | |
sind zum Beten in die Moschee gegangen. | |
„Gut läuft das Geschäft bisher nicht. Dabei brauche ich unbedingt Kunden“, | |
seufzt Uduma. Denn noch muss sie ihr Keke abbezahlen. Die | |
Anschaffungskosten liegen derzeit für ein neues Fahrzeug zwischen | |
umgerechnet 1.700 und 1.900 Euro. | |
## Strom für eine Stunde täglich | |
Gebrauchte in gutem Zustand kosten gut die Hälfte. In einem Land, in dem | |
der Mindestlohn bei gerade 60 Euro liegt – da die Masse der Bevölkerung im | |
informellen Sektor arbeitet oder keine Arbeitsverträge hat, gilt er vor | |
allem als theoretische Größe – und die Inflation im April laut | |
nigerianischer Nationalbank mehr als 22 Prozent betrug, ist das eine enorme | |
Investition. | |
Jede Woche muss Beatrice Uduma 60 Euro zurückzahlen. „Wenn ich das Geld | |
nicht einnehme, muss ich es mir leihen.“ Für die Mutter von zwei Kindern | |
bedeutet das viel Stress. | |
Davon ist ihr Leben in Oworonshoki bisher ohnehin geprägt gewesen. Das | |
Viertel liegt an der Lagune. Strom gibt es manchmal nur eine Stunde pro | |
Tag. Die kleinen einstöckigen Häuser, in denen große Familien leben, haben | |
keinen Wasseranschluss. Wasser muss stattdessen auf Sackkarren in gelben | |
Kanistern geliefert werden. | |
Was Beatrice Uduma aber am meisten belastet, sind die fehlenden | |
Möglichkeiten, im Viertel Geld zu verdienen. Neben den zwei Kindern muss | |
sie ihren alten Vater und ihren jüngeren Bruder mit Familie versorgen. Für | |
insgesamt acht Personen ist sie verantwortlich. „Doch hier gibt es keine | |
Jobs“, sagt sie. | |
## Besser als Prostitution | |
Arbeit gibt es eher in Ikeja, wo die Flughäfen liegen und Unternehmen ihre | |
Firmensitze haben, aber vor allem auf den Inseln Victoria Island und Lagos | |
Island. Dorthin pendeln allmorgendlich zahlreiche Menschen vom Festland, | |
stehen an manchen Tagen stundenlang im Stau. Gerade bei Putzfrauen und | |
Fahrern geht ein großer Teil des knappen Lohns für den Arbeitsweg drauf. | |
Zeit für die eigene Familie bleibt kaum noch. | |
„Hier bleibt uns Frauen nur die Möglichkeit, etwas Gemüse, Obst, Seife oder | |
gekochtes Essen auf der Straße zu verkaufen. Das heißt, wir stehen den | |
ganzen Tag in der Sonne und verdienen so gut war gar nichts“, seufzt | |
Beatrice Uduma. Es gibt noch eine andere Möglichkeit, die sie allerdings | |
nicht ausspricht, weil sie sie nie in Betracht ziehen wollte: | |
[1][Prostitution]. Sex ist in Nigeria die Währung der Armen. | |
Noch immer ist niemand bei ihr eingestiegen oder hat wenigstens nach einer | |
Fahrt gefragt. Uduma wartet in der heiß-feuchten Mittagssonne. Die Idee, | |
als Fahrerin zu arbeiten, kam ihr spontan: „Ich habe andere Frauen gesehen, | |
die schon als Keke-Fahrerin arbeiten, und mit ihnen gesprochen. Vor ein | |
paar Wochen habe ich entschieden, das auch zu machen.“ | |
Sie fuhr ein paarmal mit und setzte sich dann selbst ans Steuer. Das erste | |
Mal den Schlüssel umzudrehen, Gas zu geben, sich in den dichten Verkehr | |
einzuordnen und ständig auf den Gegenverkehr achten zu müssen, all das sei | |
zunächst „unheimlich“ gewesen. Doch sie erhielt die Zulassung, für die | |
keine staatliche Stelle zuständig ist, sondern ein lokaler Zusammenschluss | |
von Keke-Fahrer:innen. | |
## Keine Hilfe gegen respektlose Männer | |
Tatsächlich gibt es in Oworonshoki eine Gruppe von Frauen, die ihren | |
Lebensunterhalt als Keke-Fahrerinnen bestreitet. Wie viele es in ganz Lagos | |
sind, weiß niemand. Noch dürfte ihre Zahl in der Männerdomäne verschwindet | |
gering sein. Doch sie fallen zunehmend im Stadtbild auf und kämpfen bisher | |
noch gegen viel Kritik und Spott. „Einige Männer machen sich lustig über | |
uns“, hat Beatrice Uduma mehrfach erlebt. | |
Was sie und ihre Kolleginnen besonders ärgert: Manche weigern sich, die im | |
Viertel festgelegten Preise zu zahlen. Die Kosten für eine Strecke von | |
mehreren hundert Metern liegen meist bei 100 Naira, umgerechnet 13 | |
Euro-Cent. Mitunter beharren sie sogar darauf, kostenlos zu fahren. Die | |
Möglichkeiten, sich dagegen zur Wehr zu setzen, sind gering. | |
Zu wenig Unterstützung, kritisieren Beatrice Uduma und andere Fahrerinnen, | |
erhalten sie auch von dem lokalen Zusammenschluss der Keke-Fahrer:innen, | |
dessen Vorsitzender weiterhin ein Mann ist. Die Kritik lautet: Immer | |
mittags um 12 Uhr treibt die Vereinigung Mitgliedsbeiträge in Höhe von | |
1.000 Naira ein, egal, wie viel die Fahrer:innen bis dahin verdient | |
haben. Doch wenn Männer sich gegenüber den Fahrer:innen respektlos | |
verhalten, helfe niemand. | |
Gleichwohl gibt es auch Lob. Einer, der gerne in ein Keke mit einer Frau am | |
Steuer steigt, ist Adeshola Abiofun. Er steht an einer Haltestelle in | |
Oworonshoki, an der es weder ein Schild noch einen Fahrplan gibt. | |
Personennahverkehr ist überall in Nigeria informell geregelt und für | |
Ortsfremde undurchsichtig. Abgefahren wird, wenn Auto, Minibus oder Keke | |
voll besetzt sind. Abiofun findet: „Frauen bringen mehr Sicherheit in das | |
Viertel, denn sie fahren rücksichtsvoller und ruhiger. Das kommt uns allen | |
zugute.“ | |
## Rundfahrt in Sierra Leone | |
Gut 1.800 Kilometer weiter westlich lehnt Jacklyn Isata Momoh an einem | |
knallblauen Keke, dessen Dach ebenfalls aus einer schwarzen festen Plane | |
besteht. Auf der Rückseite des Fahrzeugs steht auf einem Aufkleber „Jacklyn | |
Tours and Travel“. | |
Es ist Samstagmorgen in Freetown, Hauptstadt von Sierra Leone. Hill | |
Station, ein Viertel, in dem bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1961 | |
Mitarbeiter:innen der britischen Kolonialverwaltung gelebt haben, | |
bietet einen spektakulären Blick über die Stadt. Bekannt ist das Viertel | |
aber vor allem für seine alten Holzhäuser über zwei Etagen, von denen die | |
meisten heute baufällig sind. Die ersten dieser Art entstanden bereits Ende | |
des 18. Jahrhunderts. Ab 1940 wurden sie wegen der Brandgefahr verboten. | |
Hill Station ist der Beginn einer ungewöhnlichen Stadtbesichtigung. Momoh | |
wartet auf eine kleine Reisegruppe, die im Keke Freetown entdecken will. | |
Seit vier Jahren arbeitet die Betriebswirtin, die Jeans und ein weinrotes | |
T-Shirt trägt, bereits im Tourismussektor. Zunächst war sie für ein | |
Unternehmen tätig, das Stadtbesichtigungen per Keke anbot. Ende 2022 machte | |
sie sich selbstständig. „Es ist toll, ganz unterschiedliche Menschen zu | |
treffen und sich mit ihnen zu unterhalten“, sagt sie über ihren Job. | |
Die heutige Gruppe, die gerade in zwei weiteren Motordreirädern um die Ecke | |
biegt, stammt aus Großbritannien. Eine der Frauen hat Jacklyn Isata Momoh | |
bereits im vergangenen Jahr kennengelernt. Nun ist sie erneut mit ein paar | |
Freundinnen für zwei Wochen in Sierra Leone und hat wieder eine Rundfahrt | |
gebucht. | |
## Wendig und spontan | |
Momoh steht vor dem alten blassgrünen Haus aus Holz, von dem längst die | |
Farbe abgebröckelt ist. Keins ist bisher hergerichtet worden, um | |
beispielsweise als Museum zu fungieren. Momoh spricht über die Kolonialzeit | |
in ihrem Heimatland, die Zeit der Unabhängigkeit und die enormen | |
Veränderungen, die Freetown in den vergangenen 20 Jahren erlebt hat. Ein | |
paar Minuten bleibt der kleinen Gruppe, bis es im Keke – der Name für die | |
Auto-Rikscha hat sich auch hier in Sierra Leone durchgesetzt – den Hügel | |
hinunter weiter in Richtung Zentrum geht. | |
Freetowns Hauptstraßen sind meist einspurig und auf den aktuellen Verkehr | |
nicht ausgerichtet. In der Auto-Rikscha ist es leichter, sich zwischen vor | |
Ampeln wartenden Geländewagen vorbeizuquetschen oder über einen Bürgersteig | |
zu fahren, wenn gar kein Platz mehr bleibt. Am Wochenende ist der Verkehr | |
allerdings überschaubar. | |
Nächster Halt auf dem Weg in die Stadt ist an einer langen Mauer, an der | |
unterschiedliche Graffiti zu sehen sind. Viele haben eine politische | |
Botschaft und fordern in einem Land, in dem [2][von 1991 bis 2002 | |
Bürgerkrieg] herrschte, zu einem friedlichen Zusammenleben zwischen Ethnien | |
und Religionen auf. | |
Wer im Auto vorbeifährt, nimmt sie kaum wahr. Im Keke ist das Anhalten auf | |
dem Seitenstreifen jedoch unkompliziert. Jacklyn Isata Momoh lässt die drei | |
Fahrzeuge, die heute im Konvoi unterwegs sind, parken, steigt aus und | |
erklärt die Street Art. | |
## Das echte Freetown entdecken | |
Der nächste Halt ist die St. John’s Maroon Church. Die Methodistenkirche | |
ist eine der ältesten im Land. Auf dem Weg dorthin erzählt die | |
Tourismus-Expertin, dass die Idee der Stadtführungen in der Auto-Rikscha | |
ursprünglich von einer Deutschen stammte. Bei einem Besuch in Freetown fand | |
sie, dass die Stadt ihr Potenzial für Urlauber:innen nicht nutzen | |
würde. Ihnen würden lediglich die Strände mit Bars und Restaurants in | |
Stadtnähe gezeigt. Andere Orte in Freetown blieben jedoch unentdeckt. | |
Um etwas anzubieten, gründete sich „Freetown Keke Tour“, ein | |
Tourismus-Unternehmen, für das Jacklyn Isata Momoh einige Jahre arbeitete, | |
bis sie sich für die Selbstständigkeit und die Gründung ihres Betriebs | |
entschied. „Wenn wir eine große Gruppe an Gästen haben, arbeiten wir | |
zusammen. Wir wollen dieses Angebot unbedingt erhalten“, sagt Momoh. | |
Werbung dafür machen beide Unternehmen vor allem in sozialen Netzwerken wie | |
Facebook, das in Westafrika stark genutzt wird. Die Mehrzahl der | |
Kund:innen kommt aus Europa und ist neugierig auf eine andere Art der | |
Stadtführung. Kekes sind zwar heute fast überall in Westafrika weit | |
verbreitet, werden aber meist nicht für touristische Zwecke genutzt. | |
Besucher:innen fahren üblicherweise nicht mit ihnen. | |
Lediglich an der Strandpromenade der südafrikanischen Hafenstadt Durban ist | |
eine Rikscha-Tour möglich. Allerdings werden die Rikschas bis heute von | |
Menschen gezogen. Einführen lassen hatte sie Ende des 19. Jahrhunderts | |
Marshall Campbell, der die erste Zuckerraffinerie gründete. Damals mussten | |
Zulu – eine der ethnischen Gruppen in Südafrika – in traditioneller | |
Kleidung Weiße durch Durban transportieren. | |
## Mittendrin statt nur im Kleinbus | |
In Freetown schätzt Jacklyn Isata Momoh, dass ihre Kund:innen in den | |
Rikschas nicht auffallen. Würde etwa eine Gruppe im weißen Minibus mitten | |
in der Stadt oder vor einem der Märkte halten und aussteigen, wäre das | |
anders. Somit lasse sich die Stadt im motorisierten Dreirad anders | |
entdecken, unkomplizierter und mit dem Gefühl, mittendrin zu sein. | |
Am Ende der Tour geht es zu einem Gräberfeld, das sich vor dem Eingang | |
einer Müllhalde erstreckt. Überall wuchern braune, ausgedörrte Gräser. Auf | |
den Kreuzen verbleichen die Namen langsam. Hier sind jene begraben, die | |
2014 und 2015 während der [3][Ebola-Epidemie] starben. Auch das sei Teil | |
der Geschichte des Landes, sagt Momoh, die eins aber nicht anbietet: | |
Slum-Tourismus, um Besucher:innen die ärmlichsten Gegenden der Stadt zu | |
zeigen. | |
Als die letzten Gäste ausgestiegen sind, koordiniert die | |
Tourismus-Expertin ihre nächste Tour. Am Nachmittag geht es erneut in der | |
blauen Autorikscha durch die Stadt. Nach den Coronajahren ist Tourismus | |
wichtiger denn je. „Das Keke passt einfach zu Freetown“, sagt sie und | |
schaut von der Rückbank aus zwei anderen Fahrzeugen nach, „und es bietet | |
tatsächlich eine Möglichkeit, Geld zu verdienen“. | |
18 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Menschenhandel-und-Prostitution-in-Nigeria/!5111029 | |
[2] https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/54806/s… | |
[3] /Ebola-in-Guinea-Sierra-Leone-und-Liberia/!5030178 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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