# taz.de -- Lesbische Theologin zum Kirchentag: „Ich bin eine Grenzgängerin�… | |
> Kerstin Söderblom ist Unipfarrerin und in der evangelischen Kirche ein | |
> Star. Ein Kirchtags-Gespräch über Ausgrenzung, Courage und Margot | |
> Käßmann. | |
Bild: Eine der innovativsten Theologinnen ihrer Generation: Kerstin Söderblom … | |
Eine Fülle von theologischen Expertisen hat Kerstin Söderblom verfasst, | |
jüngst das Buch „Queersensible Seelsorge“. Das ist keine Sammlung von | |
freundlichen Traktaten oder erbaulichen Lebenstipps – vielmehr eine | |
versierte Einführung in queere Fragestellungen auch für jene, denen diese | |
Bewusstseinsperspektive nicht vertraut ist. Das Gespräch mit Kerstin | |
Söderblom, die eben ihren 60. Geburtstag feierte, findet unmittelbar vor | |
dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg statt – per Zoom, im Vertrauen | |
darauf, einander auch in digitalen Zeiten als sprechnah zu empfinden. | |
wochentaz: Frau Söderblom, Sie sind eine der einflussreichsten Theologinnen | |
in der evangelischen Kirche, nicht nur in Deutschland. Ihre Vorschläge zu | |
queeren Lesarten des Christlichen waren schon bei Kirchentagen zu hören, | |
mit großem Applaus quittiert. | |
Kerstin Söderblom: Das ist ein großes Kompliment, danke, aber ich bin mir | |
nicht sicher, ob das viele so sagen würden. | |
Sei’s drum: Ich stelle ja nur Ihre Resonanzfähigkeit fest. | |
Ich glaube tatsächlich, dass ich mir im Hinblick auf Minderheiten mit | |
sensibler Theologie einen Namen gemacht habe. Das war nicht immer so | |
einfach. | |
Sie sagen es so zurückhaltend und vorsichtig, als wären es auch in den | |
evangelischen Kirchen nicht einst schlimme Zeiten gewesen. | |
Es ist tatsächlich ja viel Gutes passiert, in unseren Kirchen. | |
Gleichgeschlechtlichen Paaren kann Segen gespendet werden, sie können sich | |
in den meisten Landeskirchen trauen lassen, trans- und nonbinäre Menschen | |
können sichtbar sein, Regenbogenfamilien werden anerkannt. | |
Ließe sich sagen, dass sich inzwischen Homo- und Transphobe rechtfertigen | |
müssen, nicht wie einst die als Minderheiten Ausgegrenzten? | |
Diese Einschätzung teile ich, ja. Inzwischen ist es eine | |
Selbstverständlichkeit, im Leben wie auch theologisch, dass jeder Mensch | |
die gleiche Menschenwürde hat. Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild und Gottes | |
geliebtes Kind, unabhängig von Hautfarbe, Geschlechtsidentität und | |
sexueller Orientierung. Wer das nicht teilt, muss sich erklären – und das | |
ist auch gut so. | |
Sie sind ja nicht als Alien in den theologischen Beruf geworfen worden – | |
Sie kennen noch die dunklen Seiten Ihrer Kirche, etwa beim Fall Klaus | |
Brinker, ein Pfarrer der hannoverschen Landeskirche, der wegen seines | |
Schwulseins Anfang der 1980er Jahre aus dem Dienst entlassen wurde. | |
Das war ziemlich krass. Und ich, die ich aufgrund meiner damaligen | |
Partnerin mit der hannoverschen Landeskirche als junge Frau viel zu tun | |
hatte, war über diese Ungerechtigkeit empört. Es war ein Akt des | |
Machtmissbrauchs. | |
Und Sie – die als lesbische Frau Theologie studierte? | |
Tja, ich fragte mich natürlich: Wie würde es mal mir ergehen? Wieso soll | |
ich überhaupt Theologie studieren, wenn ich als Person überhaupt nicht | |
erwünscht bin? Lesben und Schwule galten als Menschen zweiter Klasse – und | |
dem wollte ich mich nicht aussetzen. | |
Und? | |
Ich entschied mich, die Verhältnisse für mich offensiv zu klären, bat schon | |
als Studentin bei meinem Personalchef in der Landeskirche um einen Termin. | |
So sagte ich ihm: Ist für mich überhaupt Platz? Er war ein wenig | |
überrumpelt und verdattert, hat, glaube ich mich zu erinnern, etwas | |
schmunzeln müssen und sagte dann Schlaues: Er könne mir keine Garantie | |
aussprechen, die Situation mit homosexuellen Pfarrerinnen* sei kontrovers. | |
Aber, das war die Pointe, er meinte, ich möge zu Ende studieren, und er | |
garantiere mir, dass in unserer, der hessen-nassauischen Kirche | |
ausgebildete Theologinnen* nach ihrer Qualifikation eingestellt würden, | |
nicht aufgrund ihrer Lebensform. | |
Sie waren sehr mutig, nicht wahr? | |
Couragiert ja, das glaube ich schon, aber es war auch eine Fügung, ein | |
glücklicher Umstand. Ich fühlte mich nie allein. Ich hätte diesen Mut nie | |
aufgebracht, wenn ich, in Hamburg Theologie studierend, nicht erstens eine | |
Lesbengruppe vom AStA gefunden hätte und es auch am Fachbereich eine | |
feministische Frauengruppe gegeben hätte. Das war wahnsinnig empowernd. | |
Damals holten wir unsere Inspirationen ja nicht aus der deutschen | |
Literatur, da gab es so gut wie nichts, sondern aus den USA, | |
befreiungstheologische Bücher, queere Schriften. Es war mühselig ohne | |
Internet, aber es lohnte sich. | |
Sie holten sich quasi Undergroundschriften … | |
… ja, so lässt es sich sagen: Mit Perspektiven, die hier in Deutschland | |
nicht gedacht wurden. Ich las, wir lasen wie Verrückte – und es hat Spaß | |
gemacht. Spaß muss es bereiten, denn sonst resigniert man irgendwann vor | |
Erschöpfung. Aber wir arbeiteten, und es war ein Quell der Erfrischung. Wir | |
lernten in reading groups nicht nur aus queeren Beiträgen, sondern aus | |
allem, was Marginalisierte äußerten, ob sie nun Black waren oder aus den | |
Favelas in Lateinamerika berichteten. So fühlte ich erstmals wirklich, | |
worin die befreiende Botschaft der Bibel liegen kann. So zogen wir, | |
Jüngerinnen des Volkes Israel … | |
Das klingt wie der Exodus, der Auszug des Volkes Israel aus ägyptischer | |
Tyrannei! | |
Und ein solcher war es auch, ein befreiender Auszug aus der Unterdrückung, | |
so konnten wir lesen, so lasen wir uns selbst. | |
Und Ihre Familie – fanden Sie in ihr Unterstützung für Ihren Weg? | |
Ja. Ich habe drei Geschwister, mit denen gab es keine Probleme. Ein Bruder | |
sagte mir, als ich mich ihm gegenüber als Lesbe outete, na, das hätte ich | |
dir gleich sagen können, das wundert mich jetzt nicht. Meine Mutter hat | |
mich von Anfang an unterstützt, hat Bücher gelesen, wollte immer wissen, | |
was ich gerade so mache. Sie hat sich auf alles eingelassen, wollte es | |
wissen. Und ging auch mit in die legendäre „Frauenkneipe“ … | |
… an der Hamburger Stresemannstraße … | |
… ja, da ging sie mal mit, das war jahrelang mein Zuhause. Und mein Vater? | |
Tja, der brauchte länger. Meine Eltern zogen ins Hessische, weil mein Vater | |
dort arbeitete, und eines Tages, als es in deren Gemeinde darum ging, ob | |
lesbische und schwule Menschen gesegnet werden sollen, hat sich die | |
Gemeinde dagegen entschieden. Mein Vater, mit dem ich viele Jahre nicht | |
über mich sprechen konnte, ging in seine Gemeinde und erklärte: Meine | |
Tochter ist Pfarrerin und lesbisch, und ich protestiere hiermit gegen diese | |
Diskriminierung. Das war sein Coming-out und für Vater und Tochter unser | |
Durchbruch. | |
Das heißt? | |
Ich habe aus meiner Familie ein Urvertrauen mitgenommen. Ich wusste, wenn | |
es hart auf hart kommt, holen mich meine Eltern aus der Scheiße. So bin ich | |
zu der Person geworden, die ich bin, nun 60 Jahre alt und immer noch am | |
Werden. Also eine Frau, die sich was traut, im Wissen, dass es Menschen | |
gibt und einen Glauben in mir, die mich tragen, der mich trägt. | |
Was wünschen Sie sich? | |
Es gibt tatsächlich noch etwas, das mir sehr am Herzen liegt. Ich finde es | |
nötig, dass die evangelischen Landeskirchen, jeweils für sich, ein | |
Schuldbekenntnis ablegen. | |
In welchem Sinne? | |
Dass sie öffentlich sagen, nicht nur per Pressemitteilung, dass sie | |
Verantwortung übernehmen für das Leid, für die Diskriminierung und das | |
Unrecht, was sie als Institutionen den Unterdrückten angetan haben. | |
Queeren, also Lesben, Schwule, Trans*, Inter* Personen. | |
Und Ihre Landeskirche in Hessen-Nassau? | |
Ich habe es selbst erlebt, als die Synode … | |
… das Kirchenparlament … | |
… ein solches Schuldbekenntnis im April dieses Jahr ablegte. Als der | |
Beschluss zu einem unglaublich hohen Prozentsatz angenommen wurde, habe ich | |
sofort angefangen zu weinen, ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich | |
ahnte selbst vorher nicht, wie sehr mich das im Innersten berühren würde. | |
Als Betroffene wissen wir ja, wie robust wir zu sein haben, um | |
Missachtungen auszuhalten, oder? | |
Das wissen wir, ja, und das macht man sich nicht klar, wie tief der | |
jahrzehntelang weggeschluckte Kummer in einem steckt. In Momenten größter | |
Berührung, wie bei mir auf dieser Landessynode, muss ich immer wieder an | |
meine seelsorgerliche Arbeit in Mainz denken, und daran, dass es nach wie | |
vor extrem viele junge Menschen gibt, die pure Angst haben, sich als queere | |
Menschen anzunehmen, die Furcht vor so vielem haben, nur, weil sie schwul | |
oder lesbisch oder trans sind oder glauben, irgendwie anders als die | |
anderen zu sein. | |
Riten, wie sie in der Kirche seit eh und je etabliert und wirksam gemacht | |
werden, sind wichtig, auch für ein Schuldbekenntnis, oder? | |
Deshalb plädiere ich mit den Schuldbekenntnissen auch dafür, dass sie in | |
einem würdigen Rahmen formuliert werden, nicht so nebenbei, nicht | |
informell. Und dass daraus Konsequenzen gezogen werden. | |
Ein Schuldbekenntnis gab Bundespräsent Frank-Walter Steinmeier vor ziemlich | |
genau fünf Jahren am Homomahnmal in Berlin nicht ab – aber er entschuldigte | |
sich für die Opfer des Paragrafen 175, die bis 1969 noch unter der | |
nazientgrenzten Strafbestimmung verfolgt werden konnten. Mir war das zu | |
wenig – dieser Paragraf verfolgte ja nicht allein homosexuelle Männer und | |
drohte mit Gefängnis, vielmehr vergiftete er das gesamte gesellschaftliche | |
Gefüge bis in die letzte Familie. | |
Das ist nur zu wahr: Der Paragraf, das weiß ich aus der systemischen | |
Familientherapie, vergiftete Familien – er zerrüttete, bewusst oder | |
unbewusst, alles an gesellschaftlichem Leben. | |
Auf dem diesjährigen Kirchentag in Nürnberg gibt es queere Interventionen, | |
auch erstmals ein Hauptpodium zur Dekolonialisierung, zur Frage des | |
Rassismus und des Völkermords in Namibia … | |
… ja, das ist ein Erfolg, dass sich der Kirchentag diesen Fragen auch so | |
prominent stellt. | |
Aber Margot Käßmann, viele Jahre der Star, ein Idol auf Evangelischen | |
Kirchentagen, wird fehlen. | |
Wir feiern in Nürnberg mit über 100.000 Menschen – der erste Kirchentag | |
seit der Coronopandemie, zu dem wir zusammenkommen können. Es geht | |
wesentlich um drei Themen: [1][die neuen Koordinaten eines Pazifismus], den | |
wir als evangelische Kirchen [2][auch erst mal neu erkennen mussten]. Wir | |
sind in der überwältigenden Mehrheit für das Recht auf Selbstverteidigung. | |
Das muss diskutiert werden. Wie auch Fragen zur Klimakatastrophe – und wie | |
wir die Aktionen der Letzten Generation einschätzen. Und dann eben die | |
Fragen des kolonialen Erbes, an dem auch wir als Kirchen mächtig zu tragen | |
haben. Rassismus und Antisemitismus sind nicht minder wichtige Fragen, im | |
Gegenteil. | |
„Jetzt ist die Zeit“ heißt die Kirchentagsüberschrift. Zeit wofür? | |
So knapp wie möglich gesagt: Verantwortung zu übernehmen. | |
Zurück zu einer Frage, die Frau Käßmann betrifft – sie übernimmt | |
Verantwortung auf ihre Weise und plädiert [3][für einen Stopp der | |
Waffenlieferungen an die Ukraine]. | |
Was sie sagte, finde ich schon krass, ich finde es vor allem enttäuschend. | |
Ich möchte kein Bashing gegen die ehemalige Landesbischöfin üben, sie hat | |
noblerweise für Fehltritte Verantwortung übernommen, wo andere an ihren | |
Sesseln kleben geblieben wären. Aber sie ist keine Heilige, sie ist nicht | |
unfehlbar, und Nürnberg wird auch ohne Frau Käßmann ein besonderes Ereignis | |
werden. | |
Ihre theologische und seelsorgerliche Expertise ist, so heißt es in | |
evangelischen Leitungskreisen, so versiert, dass gefragt werden darf: | |
Wollen Sie nicht einmal Bischöfin werden? | |
Eine spannende Frage, die mir in anderer Form auch schon gestellt wurde: | |
Möchtest du nicht in höheren Funktionen Verantwortung übernehmen? Ich habe | |
es mir immer wieder überlegt. Und dann die Frage verneint. | |
Warum? | |
Ich glaube einfach, dass solche Leitungsfunktionen, auch als Bischöfin, | |
nicht der richtige Platz für mich wären. Ich brenne leidenschaftlich für | |
Inhalte, ich habe die Gabe, Menschen zu erreichen, schriftlich, mündlich, | |
in Workshops, aber ich verlöre mich, ginge ich auf Positionen, in denen | |
mein Wirken mit diesen Inhalten nicht mehr gefragt sein würde. Ich wäre | |
dann mit Leitung beschäftigt, nicht mehr mit inhaltlichen Interventionen. | |
Kneifen Sie? | |
Das fragten mich andere schon. Könnte sein. Denke ich mir manchmal auch: Du | |
feige Socke! Aber ich vermute, dass meine Gedanken mich auf die für mich | |
richtigen Bahnen geführt haben. Ich war und bin eine Grenzgängerin. So war | |
mein Weg, von diesem bin ich nie abgewichen. | |
Immer ein wenig – typisch für lesbische oder schwule Biografien im | |
Mainstream – auf Distanz geblieben? | |
Vielleicht. Davon abgesehen, dass es auch in der liberal-progressiven | |
evangelischen Welt für Menschen wie mich, für Positionen wie meine – | |
lesbisch, queer, offen – gläserne Decken gibt, würde ich sagen, dass mein | |
Wirken bei dem, was ich in Mainz jetzt tue, größer ist. | |
Sollte es in der evangelischen Kirche mehr Grenzgängerinnen* geben? | |
Ja. Wir brauchen Menschen, die über den Tellerrand schauen, die | |
Christliches aus queerer und antirassistischer Perspektive untersuchen und | |
kritische Sichtweisen in theologische Debatten eintragen. Wir brauchen | |
Menschen, die verschiedene inhaltliche Positionen und kulturelle Welten | |
zusammenbringen und dort präsent sind, wo es Energie und Reibung gibt. | |
Und wo ist das? | |
Auf der Grenze. | |
9 Jun 2023 | |
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