# taz.de -- Türkischer Wahlkampf in Deutschland: (K)ein radikaler Wunsch | |
> Sibel Yiğitalp und Gülizar Karagöz leben in Berlin. Aus dem Exil machen | |
> sie Wahlkampf gegen Erdoğan – für Menschenrechte und Demokratie. | |
Bild: Hoffen und Bangen: Türk*innen treffen sich zur ersten Wahlrunde in einer… | |
BERLIN taz | „Umut yok, devrim yok“, sagt Sibel Yiğitalp – und ihre | |
Genossin aus der kurdischen Freiheitsbewegung, Gülizar Karagöz, übersetzt | |
aus dem Türkischen: „Ohne Hoffnung keine Revolution.“ Die beiden sitzen zum | |
Frühstück in einem kurdischen Café in Berlin-Neukölln. Die Stimmung ist | |
entspannt, es gibt frisches Obst, Salat, Sesamringe mit Marmelade, Çay-Tee | |
und Kaffee. | |
Die Gelassenheit der beiden Frauen wirkt surreal, wenn man bedenkt, was auf | |
dem Spiel steht. Ihre leuchtenden Augen, ihre fokussierten Antworten | |
verheißen allerdings mehr. | |
Für sie, wie auch für bundesweit etwa 1,5 Millionen weitere, in der Türkei | |
Wahlberechtigte, ist der Mittwoch ein wichtiger, ja gewissermaßen | |
geschichtsträchtiger Tag: Der letzte Stichwahltag im Ausland (aus | |
türkischer Perspektive) um die türkische Präsidentschaft, zwischen Recep | |
Tayyip Erdoğan und [1][Kemal Kılıçdaroğlu]. In der Türkei selbst können … | |
Stimmen erst am Sonntag abgegeben werden. | |
In der ersten Runde konnte keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit | |
erzielen. [2][Erdoğan verpasste diese mit 49,5 Prozent allerdings nur | |
knapp] und erzielte damit fast 5 Prozentpunkte mehr Stimmen als | |
Kılıçdaroğlu – entgegen vielen Erwartungen und Hoffnungen der | |
demokratischen Kräfte in der Türkei und in der türkischen Diaspora | |
weltweit. Viele hatten gedacht, dass Kılıçdaroğlu mindestens vorn liegt. | |
Manche hatten sich gar seinen Sieg mit absoluter Mehrheit im ersten | |
Wahlgang ausgemalt. | |
## „Jetzt bin ich selbst Flüchtling“ | |
[3][Für die Stichwahl] stand nun die Frage im Raum: Schaffen es die | |
oppositionellen Kräfte, erneut ein Momentum zu kreieren, erneut Hoffnung | |
auf einen möglichen Sieg aufzubauen und die Wähler*innen damit zu | |
erreichen? | |
Yiğitalp und Karagöz glauben an die Möglichkeit des Erfolgs. Seit Wochen | |
sind sie im Wahlkampf aktiv, sprechen mit Menschen auf Konferenzen, bei | |
politischen Veranstaltungen. Yiğitalp auf europäischer Ebene, Karagöz | |
berlinweit. Karagöz ist zusätzlich in der Wahlkommission tätig und | |
überwacht [4][den fairen Ablauf der Wahl] im türkischen Generalkonsulat in | |
Berlin Charlottenburg. | |
Karagöz ist Flüchtlingskind. Ihr Vater kam vor Jahrzehnten als politisch | |
Verfolgter nach Deutschland. Yiğitalp wird selbst politisch verfolgt und | |
lebt in Berlin im Exil. In der Türkei droht ihr jahrelange Haft. Dabei saß | |
sie von 2015 bis 2018 noch für die HDP (Linkspartei) im türkischen | |
Parlament und war dort für Menschenrechte und Flüchtlingsangelegenheiten | |
zuständig. „Jetzt bin ich selbst Flüchtling“, sagt sie lachend. | |
Die türkische Regierung verfolge sie aufgrund ihres Einsatzes für | |
Demokratie und Menschenrechte sowie wegen ihrer regierungskritischen | |
Haltung, erklärt sie. Jetzt kämpft sie aus dem Berliner Exil für den | |
demokratischen Wandel in ihrem Herkunftsland. | |
## Von 6 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts | |
Oppositionsparteien in Berlin haben für diesen Kampf ein inoffizielles | |
Bündnis gebildet. Kenan Kolat, Berlin-Vorsitzender von Kılıçdaroğlus CHP, | |
sagt, dass die Arbeit „ein gemeinsamer Kampf gegen das Ein-Mann-Regime“ | |
Erdoğans sei. Mehtap Erol von der Yeşil Sol Parti (Grüne Linkspartei) | |
sprach von einer „Koalition der Völker“. „Erdoğan hat nicht gewonnen“… | |
sie. „Die Leute merken, dass Erdoğans Stuhl wackelt. Man muss jetzt nur | |
noch ein bisschen ruckeln.“ | |
Erol arbeitet in Vollzeit als Pflegedienstleiterin und macht nebenbei | |
Wahlkampf. Ihre Tage begannen in der letzten Zeit morgens um 6 Uhr und | |
endeten nachts um 1 Uhr: 8 Stunden Arbeit im Pflegedienst; weitere 8 | |
Stunden in der Wahlbeobachtung im Generalkonsulat. Dazu hin und her pendeln | |
zwischen Arbeitsstelle, Konsulat in Charlottenburg und Wohnung in Köpenick. | |
Ach ja, und ein warmes Getränk vor dem Schlafengehen, „das muss sein!“, | |
sagt sie. | |
Natürlich sei sie kurz enttäuscht gewesen, dass es nicht in der ersten | |
Runde für Kılıçdaroğlu gereicht hat. Entmutigen lassen habe sie sich aber | |
nicht. „Nach dem ersten Wahlgang haben wir uns mit den demokratischen | |
Parteien in der alevitischen Gemeinde zusammengesetzt und besprochen, wie | |
wir die Menschen zur Wahl mobilisieren und die Wahlsicherheit überwachen | |
können“, berichtet Erol. Neben Schichten zur Wahlbeobachtung im Konsulat | |
wurden Shuttles für behinderte oder alte Menschen organisiert. | |
Allein von der CHP waren während der Wahl in Berlin 8 Kleinbusse und 30 | |
Privatwagen dauerhaft im Einsatz. Insgesamt wurden so bis Mittwochabend | |
etwa 1.500 Menschen zur Wahl bewegt, erklärt Kolat. Dazu wurden Menschen | |
über soziale Medien und über die breiten Vereins- und Verbandsstrukturen | |
beider Parteien zur Wahl aufgerufen. So ähnlich sei das auch bundes- und | |
europaweit organisiert worden, erklärt Erol und ergänzt: „Das ist natürlich | |
in ländlichen Regionen komplizierter, wo die Menschen weiter auseinander | |
wohnen.“ | |
## Glaube an die „revolutionäre Möglichkeit“ | |
Auch am Dienstag, am vorletzten Wahltag der „Auslands-türk*innen“, zeigt | |
sich, dass diese Strategie in Berlin Früchte trägt. Vor dem | |
Generalkonsulat, einem von insgesamt 14 in der Bundesrepublik, stehen | |
Menschentrauben. Es wird angeregt gesprochen. Die umliegenden Parkplätze | |
sind prall gefüllt. In zweiter Reihe parken Fahrzeuge, lassen ältere | |
Menschen heraus, die offenbar nicht so gut zu Fuß sind. Von den umliegenden | |
Bushaltestellen laufen Gruppen von Menschen in Richtung Konsulat. | |
Wahlkampf passiert hier kaum noch, allerdings werben Nationalisten mit | |
Türkeifahnen, die sie am Botschaftszaun befestigt haben. Manche lassen sich | |
davor fotografieren. Ein Mensch, der Mehtap Erol begrüßt, als sie mit der | |
taz spricht, findet das „unmöglich“. Er hofft, „dass wir diesen | |
Nationalismus und den Faschismus in der Türkei endlich überwinden!“ Er sei | |
in der prokurdischen Partei HDP organisiert und gerade aus Hannover | |
angereist, um moralisch zu unterstützen. Aus Angst vor zukünftiger | |
Repression möchte er allerdings anonym bleiben. | |
Ob die viele Arbeit, die hier in die Mobilisierung und Wahlbeobachtung | |
fließt, ausreicht? „Ohne Hoffnung keine Revolution“ hatten Yiğitalp und | |
Karagöz bei Sesamringen und Çay gesagt. Allerdings schöpften sie ihre | |
Hoffnung weniger aus den realen Wahlergebnissen, sondern vielmehr aus ihrem | |
tief verinnerlichten Gerechtigkeitsverständnis. „Wir glauben an die | |
revolutionäre Möglichkeit“, sagen sie. „Das ist kein radikaler Wunsch, | |
sondern ein einfach menschlicher nach Gleichberechtigung und Demokratie. Du | |
weißt, dass du recht hast, dass die unterdrückten Völker recht haben. Viele | |
Millionen Menschen glauben daran. Du kannst nicht zurücktreten.“ | |
## Ein Schritt Richtung Menschlichkeit | |
„Es ist ein Kampf“, sagt Yiğitalp, beugt sich mit ernstem Blick nach vorn | |
und fährt auf Türkisch fort. Karagöz übersetzt: „Ein Kampf um die | |
Gleichberechtigung von politischen und gesellschaftlichen Minderheiten wie | |
Kurd*innen, Alevit*innen, Armenier*innen, feministischen Frauen und | |
Menschen der LGBTIQ-Bewegung in der Türkei und im gesamten Nahen Osten.“ | |
Für beide ist klar, der Kampf geht auch nach der Wahl weiter, unabhängig | |
vom Ergebnis. Selbst wenn Kılıçdaroğlu gewinnen sollte: „Der Wahlsieg | |
bringt uns kein neues Paradies“, erklären sie. Die Demokratisierung der | |
Türkei sei ein weiter Weg und bedürfe viel Arbeit. Ein Sieg Kılıçdaroğlus | |
könne jedoch eine Tür öffnen, ein Schritt sein in Richtung Menschlichkeit. | |
Dafür müsse man dem „Diktator Erdoğan ein Ende setzen“. | |
26 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tobias Bachmann | |
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