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# taz.de -- Nach der Wahl in der Türkei: Die Liebe zum Reis
> Der von Erdoğan geförderte Islamo-Nationalismus hat es der türkischen
> Opposition schwer gemacht. Für die Stichwahl stehen ihre Chancen eher
> nicht gut.
Bild: Eine Anhängerin von Präsident Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Sonn…
„Ich liebe Erdoğan!“ Der Satz hört sich in deutschen Ohren wohl an wie ein
Witz, zumindest wie eine Übertreibung. Wer würde schon ernsthaft sagen „Ich
liebe Merkel“? Tatsächlich gibt es aber in der Türkei Hunderttausende
Menschen, die das ernsthaft behaupten.
Sie lieben und verehren ihren „Reis“, ihren Führer, ohne Abstriche. Eine
bittere Erkenntnis aus dem Ergebnis der ersten Runde der
Präsidentschaftswahl ist, dass die Gruppe dieser bedingungslosen
[1][Erdoğan-Verehrer] offenbar doch größer ist als zuletzt angenommen.
Einige Beobachter sprechen von einem in 22 Jahren Erdoğan-Herrschaft analog
zum Kemalismus neu entstandenem „Erdoğanismus“, einem ideologischen Amalgam
von Islam und Nationalismus, in dem diese AnhängerInnen voll aufgehen.
Menschen, die ihr Selbstwertgefühl daraus beziehen, dass Erdoğan angeblich
eine Türkei geschaffen hat, die sich vom Westen nicht mehr gängeln lässt,
die militärisch stark ist, die ihre eigenen Regeln setzen kann.
Das wird unterstützt durch eine zweite Komponente, die von vielen
Beobachtern unterschätzt wurde. Erdoğan geriert sich als der wahre Führer
des sunnitischen Islam, der dort wieder ansetzt, wo die Türkei mit dem
Untergang des Osmanischen Reichs diesen Status verloren hat.
## Nicht nur Muslimbrüder haben für Erdoğan getrommelt
Erdoğan hat Istanbul zum Zentrum der Muslimbruderschaft gemacht, die gerade
jetzt, wo sich abzeichnet, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad
seine Macht wieder konsolidieren kann, für ihre Basis in Istanbul kämpft.
Aber nicht nur die Muslimbrüder haben für eine Wiederwahl Erdoğans
getrommelt, von den Taliban im Osten bis zu diversen libyschen Scheichs im
Westen haben alle zu Erdoğans Wahl aufgerufen. Für seine Anhänger in der
Türkei ein klares Zeichen, dass ihr „Reis“ tatsächlich der Führer der
islamischen Welt ist.
Die Opposition hat diesem Islamo-Nationalismus die Rückkehr zur Demokratie,
Gerechtigkeit und Freiheit entgegengestellt. Sie hat damit mehr Menschen
erreicht als jemals zuvor seit Erdoğans Machtantritt. Sie kann etwas Neues
anbieten, während Erdoğan nur mehr vom Alten verspricht. Die Jugend des
Landes ist deshalb überwiegend auf ihrer Seite, doch es gibt viele
Skeptiker, die der Opposition nicht zutrauen, eine stabile Regierung zu
bilden.
Denn außer denen, die Erdoğan lieben, und [2][denen, die nach Demokratie,
Freiheit und Gerechtigkeit streben], sind die meisten, die es zu gewinnen
gilt, diejenigen, die erst einmal auf ihren Vorteil schauen. Notgedrungen
sind das viele Menschen, die durch die Wirtschaftskrise in existenzielle
Not geraten sind. Oppositionsführer Kılıçdaroğlu hat diesen Menschen
versprochen, ihre Situation zu verbessern, die Inflation zu bekämpfen und
die Preise damit wieder zu senken. Doch gute Wirtschaftspolitik ist schwer
in massentaugliche Parolen zu bringen.
## Erdoğan hat viele zum Wohlstand gebracht
Entscheidend ist, ob demjenigen Politiker, der sie verspricht, genügend
Kompetenz dafür zugetraut wird. Erdoğan hat, durch welche Umstände auch
immer begünstigt, vielen Menschen vor zehn Jahren einmal einen bescheidenen
Wohlstand gebracht. Trotz seiner katastrophalen Wirtschaftspolitik der
letzten Jahre bleibt ein Rest von Vertrauen in den „Reis“, die Leute kennen
ihn; Kılıçdaroğlu wäre da erst einmal ein Sprung ins Ungewisse. In
unsicheren Zeiten ist Angst ein starkes Motiv, viele Leute wollen dann eben
keine Experimente wagen. Dazu kommt das Jahr für Jahr größer gewordene Heer
von Opportunisten, die durch das Erdoğan-Regime zu Jobs und Privilegien
gekommen sind, die sie nicht verlieren wollen.
Außerdem sitzt der Präsident auch während der Wahl an den Hebeln der Macht.
Immer mehr Indizien sprechen dafür, dass es in größerem Umfang zu
Manipulationen gekommen ist. Für die Stichwahl in einer Woche sind das
keine guten Aussichten. [3][Die Opposition scheint ihr Potenzial
ausgeschöpft zu haben] und wenn sie Wahlbetrug in der ersten Runde nicht
verhindern konnte, wird es ihr auch in der zweiten kaum gelingen.
## Kılıçdaroğlu schwingt nationalistische Keule
Kılıçdaroğlu versucht nun, durch eine stärker nationalistische Ansprache
noch Wähler des ausgeschiedenen dritten Präsidentschaftskandidaten, des
Rechtsaußen Sinan Oğan, auf seine Seite zu ziehen. Das wirkt wenig
überzeugend, eher wie aus Verzweiflung geboren.
Denn wenn er nun frühere Versuche Erdoğans, mit der PKK zu verhandeln, als
Zugeständnisse an Terroristen geißelt, verschreckt er nur kurdische Wähler,
und ob er mit dem Versprechen, sofort nach einem Wahlsieg alle Flüchtlinge
abzuschieben, mehr Rechtsaußen-WählerInnen gewinnen kann, als andere zu
verprellen, ist sehr fraglich. „Natürlich können wir noch gewinnen“, sagte
einer der Architekten des Oppositionsbündnisses, „das käme aber einem
kleinen Wunder gleich.“ In der Türkei ist allerdings alles möglich, wie
jeder Beobachter hier schnell lernt.
21 May 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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Türkei
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