# taz.de -- Wahl in der Türkei: Das Erdoğan-Paradox | |
> In Konya haben fast 70 Prozent im ersten Wahlgang für Erdoğan gestimmt. | |
> Dabei kritisieren die Menschen in der Stadt die Regierung. Passt das | |
> zusammen? | |
Bild: Hat bei der Stichwahl mindestens Heimvorteil: Recep Tayyip Erdoğan | |
KONYA/ANKARA taz | Osman benennt die aktuellen Probleme in der Türkei: Die | |
Inflation vernichtet die Kaufkraft der Menschen, auf das Justizsystem ist | |
kein Verlass, Recep Tayyip Erdoğan betreibt Vetternwirtschaft. „Aber das | |
gibt es doch in jeder Gesellschaft“, sagt der Geschäftsmann aus der | |
Tourismusbranche in der zentralanatolischen Stadt Konya. Bei den türkischen | |
Wahlen hat er vergangene Woche für die nationalistische MHP gestimmt – die | |
Partei tritt in einem Bündnis mit Erdoğans AKP an. | |
Es ist das Paradox, über das sich die türkische Opposition seit dem ersten | |
Wahlgang vor einer Woche den Kopf zerbricht. Die Probleme im Land liegen | |
auf der Hand, doch die Allianz um den kemalistischen Oppositionskandidaten | |
Kemal Kılıçdaroğlu dringt mit ihren Versprechen um Stabilität und | |
Rechtsstaatlichkeit nicht bei der Mehrheit durch. Der aussichtsreichste | |
Oppositionskandidat, den die Türkei im Rennen gegen Erdoğan in den | |
vergangenen Jahren hervorgebracht hat, ist entgegen vieler Prognosen im | |
ersten Wahlgang [1][vorerst gescheiter]t. | |
Osman, der seinen vollen Namen nicht nennen will, diskutiert im Schatten | |
eines Hochhauses in Konya mit drei Unternehmer-Freunden über die Wahlen. | |
Die Stadt mit 1,3 Millionen Einwohner*innen liegt etwa 250 Kilometer | |
südlich von Ankara und ist einer der wichtigsten Wirtschaftsstandorte der | |
Türkei. Fast 70 Prozent der Menschen haben hier bei der | |
Präsidentschaftswahl für Erdoğan gestimmt. Das ist umso eigenartiger, wenn | |
man erfährt, dass die Unternehmer*innen hier die Wirtschaftspolitik | |
der türkischen Administration kritisieren. „Diese Regierung hat eine | |
kannibalische Seite“, sagt Osman. | |
Weil keiner der beiden Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit | |
erreicht hat, stehen kommende Woche Stichwahlen bei den | |
Präsidentschaftswahlen an. Die Opposition bereitete sich Anfang der Woche | |
nur zögerlich darauf vor. Jetzt betont Ekrem Imamoğlu, CHP-Bürgermeister | |
von Istanbul und beliebter Stellvertreter von Kılıçdaroğlu: „Es steht null | |
zu null in der Halbzeitpause.“ | |
## Null zu Null zur Halbzeit | |
Wenn diese Analogie zutrifft, dann müsste man für die zweite Runde | |
zumindest von einem Heimspiel-Vorteil für Erdoğan ausgehen. Er hat mit | |
seinem Wahlbündnis auch die Parlamentswahlen mit 49,5 Prozent gewonnen. Das | |
Bündnis von Kılıçdaroğlu erhielt hier lediglich 35 Prozent. Damit würden | |
Erdoğan und seine Leute wohl nicht nur in einer religiösen Stadt wie Konya | |
in der kommenden Legislatur den Ton angeben. | |
Doch wer sich eine AKP-Hochburg wie Konya als triste Einöde voller | |
religiöser Hinterwäldler*innen vorstellt, irrt. Hier fahren | |
Straßenbahnen, es gibt Fahrrad-Abstellplätze und zahlreiche Parks. Der | |
Bürgermeister von der AKP, Uğur İbrahim Altay, wirbt im Stadtzentrum mit | |
fast 100 neu angeschafften Stadtbussen, dutzenden verbesserten | |
Straßenkreuzungen und Hilfen für die Landwirtschaft in Millionenhöhe. | |
„So lange sich die türkische Wirtschaft nicht wieder in den Weltmarkt | |
integriert, werden wir weiter Schwierigkeiten haben“, sagt der Unternehmer | |
Ramazan Güven. Er ist einer der Männer, mit denen Osman in Konya | |
diskutiert. Güven ist in der Textilindustrie tätig und sagt, er beschäftige | |
in Adana 65 Menschen in einer Näherei, wo er Hosen produziere. | |
Während er als Großhändler vergangenes Jahr eine Hose für 85 Lira verkauft | |
habe, koste diese nun 220 Lira. Deshalb verfolgen die Männer die | |
Devisenkurse mit ähnlich großem Interesse wie die Wahlen. Zuletzt hat sich | |
das Verhältnis der Lira zum Euro bei etwa 20:1 eingependelt. Noch 2017 | |
kostete ein Euro in der Türkei etwa 4 Lira. „Früher haben die Menschen hier | |
von einem Haus oder einem eigenen Auto geträumt, doch diese Träume wurden | |
uns genommen“, sagt Güven. | |
Wegen des mangelnden Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit des Landes haben | |
internationale Investoren in den vergangenen Jahren ihr Kapital aus der | |
Türkei stark abgezogen. Erdoğan versucht, mit schuldenfinanzierten Ausgaben | |
die Wirtschaft des Landes auf Trab zu halten. Gleichzeitig übt er Druck auf | |
die Zentralbank aus, den Leitzins niedrig zu halten, damit Unternehmen | |
günstige Kredite aufnehmen können. | |
Die Lira verliert massiv an Wert und die Menschen klagen über gestiegene | |
Lebensmittelpreise. Dass sich die Menschen wegen der sinkenden Reallöhne | |
aber längst auch keine Wohnungen mehr leisten können, die am Rande von | |
Städten wie Ankara in riesigen Hochhaussiedlungen entstehen, sollte Erdoğan | |
den Schlaf rauben. | |
Wen er gewählt hat, will der Textilunternehmer Güven nicht verraten. Doch | |
von der Opposition halten die Männer, die sich in Konya unterhalten, nicht | |
viel. „Kılıçdaroğlu ist viel zu passiv“, sagt Osman. | |
Es hat fast zwei Tage gedauert, bis das Oppositionsbündnis Worte für die | |
Wahlschlappe von vergangener Woche gefunden hat. Als sich Kılıçdaroğlu dann | |
am Mittwoch in einem Video bei Twitter zu Wort meldete, waren einige wegen | |
seiner Wortwahl überrascht: „Wir werden unsere Heimat nicht denen | |
überlassen, die nicht in der Lage sind, die unkontrollierte Flut von | |
Menschen, die in unsere Adern eindringt, zu stoppen.“ Schon vorher hatte | |
Kılıçdaroğlu auf Kosten der Geflüchteten in der Türkei Wahlkampf betriebe… | |
Sein Ton ist jetzt jedoch noch deutlich nationalistischer. | |
Kemal Kılıçdaroğlu ist der Präsidentschaftskandidat eines | |
Sechs-Parteien-Bündnisses, darunter auch der rechten İYİ Parti. Die Allianz | |
war überzeugt, den ersten Wahlgang zu gewinnen, Umfrageinstitute hatten | |
sogar eine absolute [2][Mehrheit für Kılıçdaroğlu prognostiziert], womit es | |
gar nicht zur zweiten Runde gekommen wäre. | |
Doch das Gegenteil trat ein: Kılıçdaroğlu liegt mit 44,9 Prozent deutlich | |
hinter Erdoğan, der mit 49,5 Prozent nur knapp den Wahlsieg verpasste. Die | |
Stichwahlen am 28. Mai sind damit die vorerst letzte Hoffnung der | |
Opposition, die Türkei vor fünf weiteren Jahren AKP-Herrschaft zu bewahren. | |
Nun bemüht sich Kılıçdaroğlu um die Stimmen am rechten Rand und versucht, | |
mit dem Kandidaten, der bei den Stichwahlen nicht mehr antritt, einen Pakt | |
zu schmieden. Sinan Oğan ist ein Nationalist und erhielt aus einer | |
Außenseiterposition 5,2 Prozent. Auf diesen Stimmanteil hat es die | |
Opposition nun abgesehen und hat für den zweiten Wahlgang Umstellungen in | |
ihrer Kampagne vorgenommen. | |
Die Videos von Kılıçdaroğlu, in denen er sich aus seiner heimischen Küche | |
zu Wort meldete, scheinen erst einmal vorbei. Die Jugend des Landes feierte | |
diese Beiträge zwar als erfrischenden Kontrapunkt zu Erdoğans | |
Herrscher-Gebaren, doch auch bei der CHP weiß man: Bei Twitter sind keine | |
Wahlen zu gewinnen. | |
In Konya befindet sich das CHP-Büro unweit des Hochhauses der Bera-Holding, | |
unter dem Osman und Ramazan Güven sitzen. Eine Handvoll Parteimitglieder | |
organisiert aus der hiesigen Parteizentrale die Kampagne für die zweite | |
Runde der Wahlen in der Region. | |
In der Provinz Konya erhielt Kılıçdaroğlu mit 24 Prozent der Stimmen nur | |
fast halb so viel wie im Landesdurchschnitt. Das schlechte Abschneiden ist | |
keine große Überraschung in der konservativen Provinz, vielmehr besteht der | |
Parteivorsitzende in Konya, Bekir Yaman, darauf, dass die AKP hier im | |
Vergleich zu den vorherigen Wahlen schlechter abgeschnitten hat. | |
Er macht die Medien für das Ergebnis verantwortlich. „Unsere | |
Lösungsvorschläge für die wirtschaftlichen Probleme vor Ort finden kaum | |
Gehör. Und die Leute hier, vor allem in den Dörfern, beziehen ihre | |
Informationen von regierungsnahen Sendern wie TRT.“ | |
## Kaum Gehör für Opposition | |
Die Wahlbeobachter*innen-Mission der Organisation für Sicherheit und | |
Zusammenarbeit (OSZE) [3][berichtete Anfang der Woche] in ihrem Report zu | |
den Türkeiwahlen von einer „klaren Favorisierung der Kampagnen der | |
amtierenden Regierung“ in den Medien des Landes. | |
Zwar seien es „gut organisierte“ Wahlen gewesen mit Vertrauen der Menschen | |
in den Wahlgang, den „Rechtsrahmen, der keine vollständige Grundlage für | |
die Abhaltung demokratischer Wahlen biete“ kritisierte die OSZE jedoch. | |
Hier nannte sie insbesondere Einschränkungen der Meinungsfreiheit und die | |
Festnahme von Oppositionspolitiker*innen. | |
Unterdessen versucht auch die Opposition den Berichten über die Entwendung | |
von Stimmen in mehreren Wahlbüros im Land zu begegnen. „Was die Sicherheit | |
an den Wahlurnen betrifft, waren wir diesmal viel erfolgreicher als zuvor“, | |
sagte die Vorsitzende der Istanbuler CHP, Canan Kaftancıoğlu, am | |
Donnerstag. Die Opposition befürchtet, dass die Angst vor dem Stimmenklau | |
Menschen davon abhalten könnte, zur Wahl zu gehen. „In dieser Angelegenheit | |
sollen unsere Bürgerinnen und Bürger unbesorgt sein.“ | |
Osman und Ramazan Güven sagen in Konya, sie gehen von einem Sieg Erdoğans | |
in der zweiten Runde aus. „Wir wählen mit der gleichen Einstellung, wie wir | |
eine Fußballmannschaft unterstützen“, sagt Ramazan Güven. Da würden die | |
Fehler einer Partei schnell mal übersehen. | |
19 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Cem-Odos Güler | |
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