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# taz.de -- Poitikerin Sera Kadıgil über Freiheit: „Wir warten seit 22 Jah…
> Sera Kadıgil ist Mitglied der türkischen Arbeiterpartei TİP. Sie spricht
> über Pressefreiheit, Wahlmanipulation und ihren Glauben an die
> Opposition.
Bild: Sera Kadıgil: „Ich träume davon, in einem besseren Land zu leben“
taz Panter Stiftung: Frau Kadıgil, wie ist die Stimmung am Internationalen
Tag der [1][Pressefreiheit in der Türkei]?
Sera Kadıgil: Seit 22 Jahren ist Recep Tayyip Erdoğan an der Macht und hat
seither systematisch die Presse unter seine Kontrolle gebracht. Er wusste,
dass es möglich ist, Menschen zu kontrollieren. Der ganze Staatsapparat
steht unter seiner Kontrolle. Mit Steuergeldern hat er eine Institution
namens „Kommunikationsdirektorat“ installiert, die allein im Februar fast
180 Millionen türkischen Lira (circa 8,4 Millionen Euro) Ausgaben hatte.
Hier wird mit meinen Steuergeldern schwarze Propaganda betrieben. (Mittel
aus der psychologischen Kriegsführung, entwickelt im Zweiten Weltkrieg,
wobei durch die Verbreitung von Fake News der ideologische Gegner
verunsichert wird; d. Red.).
Journalist*innen hingegen, die versuchen, die Öffentlichkeit mit Fakten
zu informieren, sitzen im Gefängnis. Die wenigen noch verbliebenen
unabhängig berichtenden TV- und Printmedien werden mit Geldstrafen
überzogen und auf diese Weise zum Schweigen gebracht. Eine
Oppositionspolitikerin wie ich kommt in 95 Prozent der türkischen Presse
überhaupt nicht vor. Menschen, die sich nur über diese Kanäle informieren,
wissen überhaupt nicht, dass es jemanden wie mich gibt.
Wie ist so was möglich? Können Sie das genauer erklären?
Die Medienaufsicht RTÜK belegt alle Sender, die den Mut haben, mich
einzuladen, mit Sendeverbot und Geldstrafe. Beispielsweise habe ich bei
einem Auftritt auf Fox TV Erdoğans Behauptung, die Wirtschaft sei „in
keinem schlechten Zustand“, mit den Worten kommentiert, er sei offenbar
Präsident auf dem Mars, woraufhin der Sender eine Geldstrafe von 5
Millionen Lira erhielt. Beim Sender Tele 1 forderte ich die Schließung der
Imam-Hatip-Schulen sowie der Religionsbehörde Diyanet, es folgte ein
dreitägiges Sendeverbot. Die Zensur betrifft natürlich nicht nur mich,
sondern alle Menschen mit einer oppositionellen Meinung. Die Pressfreiheit
in der Türkei ist in einem sehr schlechten Zustand. Was das angeht, leben
wir derzeit in einem der beschämendsten Länder der Welt.
Zur Meinungsfreiheit gehört auch das Recht, sich frei im öffentlichen Raum
zu bewegen. Was können Sie über die systematische Einschränkung des
Versammlungs- und Demonstrationsrechts sagen?
Medien und Justiz sind demokratische Mittel, um auf Missstände hinzuweisen.
Demonstrationen ein grundlegendes Bürgerrecht, das Menschen ermöglicht,
ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen. Unter Erdoğan sind diese Möglichkeiten
zur Regierungskritik zusammengebrochen. Er will, dass geschieht, was er
befiehlt, und dass niemand sich dagegen wehren kann. Deshalb traktiert er
bereits seit den Gezi-Protesten vor zehn Jahren das Recht auf
Versammlungsfreiheit. Frauen können am 8. März nicht auf der İstiklalstraße
demonstrieren; Pride-Paraden werden mit härtester Gewalt aufgelöst, als sei
es keine weltweit stattfinde LGBTIQ*-Veranstaltung, sondern eine
militärische Besatzungsmacht, die die Türkei einnehmen will;
Arbeiter*innen, die gegen ihre Entlassung protestieren, werden
festgenommen. Die Regierung hat das Land zugrunde gerichtet, und um das zu
verschleiern, nutzt sie jedes ihr zur Verfügung stehende Gewaltmittel.
Am 14. Mai finden die [2][Präsidentschaftswahlen] statt. Kritiker*innen
befürchten, dass Erdoğan im Falle einer Niederlage das Ergebnis nicht
akzeptieren wird. Wie könnte man unter den gegebenen Umständen dagegen
vorgehen?
Eine berechtigte Sorge. Wir haben das bereits 2019 bei den
Bürgermeisterwahlen in Istanbul erlebt. Ich war persönlich bei der
Auszählung der Wahlstimmen dabei. Wir haben mit einem Vorsprung von 13.000
Stimmen die Wahl gewonnen. Am nächsten Morgen hingen überall Fotos von
Recep Tayyip Erdoğan mit dem Slogan: „Die Stadtverwaltung der Herzen hat
gesiegt.“ Sie haben versucht, uns diese Wahl zu stehlen. Doch die
Bevölkerung hat es nicht zugelassen. Nach Protesten gab es eine Wiederwahl
und wir erzielten sogar einen noch deutlicheren Wahlsieg. Diesmal musste
die Regierung das Ergebnis akzeptieren. Wenn jemand versucht, mit aller
Gewalt und entgegen den Wahlergebnissen die Macht an sich zu reißen, habe
ich als Bürgerin das Recht, Widerstand zu leisten.
Und genau von diesem Recht werden wir im Zweifel auch Gebrauch machen. Ich
habe Vertrauen in mich, meine Partei und auch alle anderen
Oppositionsparteien und glaube an den Mut der Bürger*innen, die in diesem
Land leben. Es hat uns alle so viel Mühe gekostet, dieses Land aufzubauen,
da werden wir es nicht kampflos aufgeben. Die Regierung hat es nicht
geschafft, die Bevölkerung mit Zensur und Festnahmen einzuschüchtern. Alle
warten händereibend auf diese Wahl. Wenn die Regierung versucht, mit
unrechtmäßigen Mitteln die Wahl an sich zu reißen, wird sich ein Großteil
der Bevölkerung dem widersetzen. Davon bin ich überzeugt. Unsere Geduld ist
am Ende.
Wer sich die Hände reibt, hat Hoffnung. Sie glauben also, dass Erdoğan die
Wahl verlieren könnte?
Ja. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 hatte der CHP-Kandidat
Muharrem İnce gute Chancen gegen ihn, doch es war klar, dass es ein
Kopf-an-Kopf-Rennen werden würde. In jedem Fall war die AKP in den Umfragen
nicht so schwach wie heute. Ich war damals vor Ort und werde es auch
diesmal sein. Erdoğans Zeit ist vorbei. Nicht bei einer einzigen Umfrage
liegt er vorn. Immer mehr Menschen, die ihn bereits fünfmal gewählt haben,
wünschen sich nun, sie hätten sich lieber die Hand gebrochen. Die
wirtschaftliche Lage ist so schlimm, dass sich die Menschen nicht einmal
mehr ein Kilo Zwiebeln leisten können.
[3][Selahattin Demirtaş], der inhaftierte ehemalige Vorsitzende der HDP,
hat die Volksallianz, der neben AKP und MHP auch die islamistische YRP und
die Hüda Par, ein ideologischer Ableger der Hisbollah, angehören, als
„Talibanbündnis“ bezeichnet und davor gewarnt, dass es vielleicht „die
letzte Wahl sein könnte, bei der Frauen wählen dürfen“. Was sagen Sie dazu?
Ich stimme dem geschätzten Herrn Demirtaş in diesem Punkt völlig zu. Das
versuche ich vor allem Frauen, die hinter der AKP oder der MHP stehen, zu
erklären. Dies könnte für alle progressiven Gesellschaftsgruppen die letzte
Wahl sein, aber vor allem für Frauen ist es eine kritische Zeit. Glauben
Sie mir, dass weder die iranischen noch die afghanischen Frauen damit
gerechnet hätten, sich in ihrer aktuellen Situation wiederzufinden. Früher
hörte man Menschen sagen: „Ach komm, so etwas ist in der Türkei unmöglich.…
Aber diese Zeiten sind vorbei. Es gibt Leute, die fordern, dass der
Anspruch auf Alimente aufgehoben und Scheidungen gänzlich verboten werden
sollen. Dieser Tage müssen vor allem Frauen auf der Hut sein.
Die Saadet-Partei, die den Austritt aus der Istanbul-Konvention unterstützt
hat, ist Teil des oppositionellen Bündnisses der Nation (Millet İttifakı).
Wie wird sich das Bündnis für Arbeit und Freiheit (Emek ve Özgürlük
İttifakı), dem auch Sie angehören, bei einem Einzug ins Parlament
positionieren?
Die CHP hat ein rechtes Bündnis gegründet. In diesem sogenannten Bündnis
der Nation steht ganz links die CHP, die behauptet, eine
sozialdemokratische Partei zu sein. Das Bündnis für Arbeit und Freiheit ist
unentbehrlich, weil bei dieser Wahl ein Mitte-rechts-Bündnis gegen eine
islamisch-faschistische Regierung antritt. Die Türkei darf nicht zwischen
diese beide Bündnisse gedrängt werden. Wir müssen eine Alternative
ermöglichen. Wir sehen uns in der Rolle, der potenziellen Regierung ihre
Grenzen aufzuzeigen. Wir wollen das Lenkrad dieses Landes ein Stück nach
links reißen. Wann immer sich die Politik gegen Minderheiten richtet und
die übrigen Oppositionsparteien nichts dagegen tun, sehen wir uns in der
Pflicht, den offenen Laizismus, die Rechte von Frauen, LGBTIQ* und der
kurdischen Bevölkerung und darüber hinaus die Rechte der Arbeiter*innen
zu verteidigen.
Wahlsicherheit war eines der großen Sorgenthemen bei den vergangenen
Wahlen. Wie wollen Sie die Sicherheit bei den anstehenden Wahlen
gewährleisten, vor allem wenn man die Situation der Stimmberechtigten in
der Erdbebenregion bedenkt?
Über drei Millionen Menschen aus elf Städten sind aus der Erdbebenregion
umgesiedelt. Allerdings haben aktuell weniger als 400.000 Menschen in der
Türkei offiziell ihren Wohnsitz verlegt, wozu nicht nur vom Erdbeben
Betroffene zählen. Die einzige Möglichkeit für die Menschen, die sich nicht
umgemeldet haben, zu wählen, besteht also darin, zur Stimmabgabe in ihre
Heimatstadt zurückzukehren. Dafür müssen Busse und Flugzeuge zur Verfügung
gestellt werden. Wir reden hier von millionen Menschen. Niemand hat derzeit
die Mittel, das zu leisten. Im Grunde wurde diesen Menschen gewissermaßen
ihr Wahlrecht bereits entzogen. Unsere Partei, die TİP, ist vor allem in
Hatay sehr stark vertreten und organisiert. Wir werden in jedem Fall
Beobachter*innen in den mobilen Wahllokalen haben. Aber diese Aufgabe
können wir nicht allein bewältigen. Deshalb bündeln wir unsere Kräfte im
Bündnis für Arbeit und Freiheit. Aber auch das wird nicht reichen. Wir
müssen an dieser Stelle auch mit dem Bündnis der Nation zusammenarbeiten.
Es treten vier Kandidaten für die Präsidentschaftswahl an. Die erneute
Kandidatur von Muharrem İnce, der bei den letzten Wahlen noch für die CHP
angetreten ist, sorgt für Diskussionen. Es gibt Bedenken, dass seine
Kandidatur eine Stichwahl zur Folge haben beziehungsweise eine Gefahr für
Kemal Kılıçdaroğlu, den Kandidaten des Bündnisses der Nation, darstellen
könnte. Wie denken Sie als ehemaliges CHP-Mitglied darüber?
Muharrem İnce begeht einen historischen Fehler. Was glauben Sie, verbindet
die TİP und die islamistisch ausgerichtete Saadet-Partei? Beide wollen die
Abwahl der aktuellen Regierung und damit die Befreiung vom Palastregime.
Muharrem İnce hat sich selbst aus dieser Einigkeit ausgeschlossen. Bei den
letzten Wahlen habe ich noch als CHP-Mitglied Wahlkampf für Muharrem İnce
gemacht. Wenn nötig, würde ich es wieder tun, denn ich träume davon, in
einem besseren Land zu leben. Ich glaube nicht, dass Muharrem İnces
Einfluss so groß ist, dass es zu einer Stichwahl kommt. Falls doch, würde
mich das sehr wütend machen, denn wir warten seit 22 Jahren auf diesen
Moment. Ich habe keine Geduld mehr. Und wir können es uns auch nicht mehr
leisten, auch nur 14 Tage länger, nein, nicht einmal 14 Stunden länger Zeit
mit Erdoğan zu verbringen.
Aus dem Türkischen von Julia Lauenstein
Elif Akgül ist freie Journalistin. In der Türkei war sie Reporterin für den
pro-kurdischen Sender IMC TV, und Redakteurin bei der Nachrichtenwebsite
bianet.org. Aktuell schreibt sie für die Deutsche Welle, +90 und
verschiedene kurdische Medien. Mit Çiçek Tahaoğlu veröffentlichte sie ein
Handbuch über „Gender Based Journalism“. Für ihre Berichterstattung über
den Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink erhielten sie und Canan
Coşkun den Special Price des Metin Göktepe Journalism Award.
Dieser Artikel ist am 3. Mai 2023 als Teil einer gemeinsamen Sonderbeilage
der taz Panter Stiftung und Reporter ohne Grenzen zum Tag der
Pressefreiheit erschienen.
3 May 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Elif Akgül
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